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Kunstgeschichte

Kirchners Flucht

Ernst Ludwig Kirchner gilt als Meister des Expressionismus, seine Werke sind im Moment im Kunsthaus Zürich zu sehen. Im Ersten Weltkrieg floh Kirchner in die Schweiz. Die Entfernung von der Metropole Berlin spiegle sich in seiner Kunst, schreibt Kunsthistorikerin Bettina Gockel.
Bettina Gockel
Ernst Ludwig Kirchners langjährige Lebensgefährtin Erna Schilling mit Japanschirm.

Blick und Köpfchen nach unten, damit die Lider links und rechts schön nach oben schwingen, Hände ebenso gelassen wie kapriziös ausgestreckt, Ornamente nur angedeutet – schaut mich an, japanisch, wie ich bin, und im Hintergrund rauscht die Ostsee. So erscheint eine in Blau, Rot und Gelb vor unseren Augen hingeworfene Frauenfigur (es ist Erna Schilling, Ernst Ludwig Kirchners langjährige Lebensgefährtin), die vielleicht nur ein paar Minuten für den Künstler innehielt, für den Meister der schnellen zeichnerischen Auffassung, die er mühelos in die Malerei übertrug, ein Künstler, der Weltkünstler sein wollte, um so der deutsche Künstler schlechthin zu werden. Entstanden ist das Bild des gut 30-jährigen Kirchner (1880–1938) auf Fehmarn, der rund 400 Kilometer von Berlin entfernten Ostseeinsel. Kirchners Werke müssen für Zeitgenossen «mind-blowing» gewesen sein, weil er so konsequent und konzeptionell das spontan und lebensnah Wirkende in Kunst umformen konnte. 

Suche nach dem Wesenhaften

Ernst Ludwig Kirchner hat sich als grosser Berliner Bohemien erfunden – sozial und sexuell befreit. Die Flucht in die Schweiz vor 100 Jahren während des Ersten Weltkriegs wurde für sein künstlerisches Schaffen allerdings zum Problem. Im Elitesanatorium von Ernst Ludwig Binswanger, seinem ersten Zufluchtsort am Bodensee, wurde ihm eine Art phänomenologische Gehirnwäsche verpasst (Morphium gehörte zur Rezeptur), sodass der Expressionist vom Körper auf den Geist umschaltete. Er war nun auf der steten Suche nach dem Wesenhaften in seiner Kunst – auch mittels des Fotoapparats.

Unweit von Davos und im Sommer auf der Alp hatte er neue Orte für seine Fusion von Leben und Kunst gefunden hatte: Da gab es Nackttanzen in den Bergen, handgefertigte bäuerliche Bekleidung bei gleichzeitigem Studium der Bauhausbücher zusammen mit seiner Lebenspartnerin Erna, kurzum eine Existenz zwischen Modernität und Primitivismus, durchsetzt mit Lebensreformidealen und der Lektüre der alten Avantgardisten: Van Gogh und Gauguin.

Zwei Existenzen

Der Fehler in dieser (Kunst-)Geschichte war die Entfernung von Berlin, der Metropole, dem Zentrum der Künste, als Gegenbild zum einfachen Leben des Künstlers. Etwas stimmte nicht mehr in Kirchners künstlerischem Kräftefeld. Ohne sich davon befreien zu können, erkannte dieser das Dilemma. Was zwischen der Ostseeinsel Fehmarn und der Grossstadt Berlin gut funktioniert hatte – das zeigt die aktuelle Schau des Kunsthauses grandios –, liess sich für den angestrebten Spagat zwischen den Schweizer Bergen und Berlin nicht aufrechterhalten. Seine frühe fluchtartige Auswanderung bedeutete eine fundamentale Auflösung der einstmals gut aufgestellten, produktiv inszenierten Polarität von Natur und Kultur, für die Kirchner in der Schweiz kein wirkliches Äquivalent gefunden hat.

Derzeit können beide Existenzen Kirchners nahe beieinander gesehen und erlebt werden: In Zürich die Ausstellung im Kunsthaus, die den klassischen Kirchner zeigt. In Davos das Kirchner Museum, das den Künstler in seiner Lebenswelt nahe bringt. Das ist berührend. Auf diese Weise und zeitlich begrenzt erscheint der Immigrant Kirchner dann doch in der Schweiz richtig angekommen, auch der Berliner Bohemien.