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Kongress

Unser Körper, ein Produkt evolutionärer Kompromisse

Infektionen und Zivilisationskrankheiten wie Rückenschmerzen oder Adipositas haben viel mit unserer evolutionärer Geschichte zu tun. Für eine erfolgreiche Behandlung braucht es deshalb entsprechende Kenntnisse. Das machte der internationale Kongress zur Evolutionären Medizin an der UZH deutlich.
Stefan Stöcklin

«Wir verstehen immer besser, wie evolutionäre Prozesse unseren Körper prägen»: Frank Rühli, Direktor des Instituts für Evolutionäre Medizin der UZH. (Bild: Stefan Stöcklin)

Herr Rühli: Sie haben letzte Woche an der Universität Zürich einen mehrtägigen Kongress zur evolutionären Medizin mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus der ganzen Welt durchgeführt. Was hat Sie besonders beeindruckt?

Frank Rühli: Eindrücklich war für mich die grosse Bandbreite der Fachgebiete, die sich mit Themen der evolutionären Medizin befassen. Wir haben am IEM (Institut für Evolutionäre Medizin) Kernkompetenzen etwa in der Morphologie und Paläopathologie oder der Analyse alter humaner DNA. Aber die enorme Breite von Fachleuten aus der Anthropologie, Evolutionsbiologie und klinischen Medizin bis hin zu den Sozialwissenschaften am Kongress war schon eindrücklich. Dies zeigt die Bedeutung des Gebiets. Die evolutionäre Medizin ist eine wichtige und breit abgestützte Basiswissenschaft der gesamten modernen Medizin.

Wieso ist die evolutionäre Medizin wichtig?

Die evolutionäre Medizin liefert eine neue und zusätzliche Betrachtungsweise, die zu den Wurzeln der Krankheitsentstehung führt. Wie der US-Pionier Randolph Nesse am Kongress sagte: eine Medizin ohne Einbezug evolutionärer Konzepte wäre wie eine Ingenieurswissenschaft ohne Berücksichtigung der Physik. Das heisst, die evolutionäre Medizin ist essentiell. Sie beschäftigt sich mit der weit in die Vergangenheit zurückreichende Geschichte des menschlichen Körpers. Sie befasst sich beispielsweise mit den Umweltbedingungen, die laufend zur Entstehung neuer Krankheitserreger beitragen.

Diese Veränderungen und Wechselwirkungen besser zu verstehen, ist ein Ziel der evolutionären Medizin. Krankheiten können aus einer fehlerhaften Anpassung entstehen, die erst in langen, evolutionären Zeiträumen verständlich wird. Gleichzeitig trägt unser Gebiet den individuellen Unterschieden zwischen Menschen Rechnung, die auch in der personalisierten Medizin von grossem Interesse sind.

Können Sie ein Beispiel geben?

Verbreitete Zivilisations-Krankheiten wie Übergewicht oder Rückenschmerzen haben eine evolutionäre Komponente. Die Tendenz zu Übergewicht in unserer gesättigten Gesellschaft zum Beispiel hat wohl auch mit den Mechanismen der  Energiespeicherung unserer Vorfahren zu tun. Sie lebten in einer Umwelt, in der es sinnvoll war, rasch Energiereserven in Form von Fett anlegen zu können.

Auch Rückenschmerzen haben evolutionäre Aspekte. Der Aufbau unseres Körpers gleicht an vielen Stellen einem Kompromiss, um verschiedene Funktionen zu erfüllen. Wir gehen nicht mehr auf vier Beinen, sondern aufrecht. Wir haben die Hände frei, aber der untere Wirbelsäulenbereich ist deswegen stark belastet. Vermutlich hatten schon die Australopitecinen, unsere Vorfahren vor mehreren Millionen Jahren, Rückenbeschwerden. Diese Deutung lassen zumindest Fossilien zu, die untersucht wurden. Was aufgrund ihrer geringen Lebensspanne von rund 30 bis 40 Jahren doch erstaunlich ist.

Trotzdem würde ich nicht sagen, dass der aufrechte Gang per se eine Fehlanpassung ist, die zu Rückenproblemen führen muss. Aber er zeigt die Kompromisse, die wir in unserer Körperentwicklung eingehen mussten. Solche Zielkonflikte oder Trade-offs finden wir überall – im Skelett und den übrigen Strukturen des Körpers.

Sie legen Wert darauf, den Medizin-Studierenden die Möglichkeit zu bieten, die Konzepte der evolutionären Medizin verstehen zu lernen.

Wir wollen insbesondere den Medizin-Studierenden zwei Dinge mitgeben: Erstens ein Bewusstsein für Variabilität und Veränderung. Aus einer evolutionären Perspektive wird sofort einsichtig, dass sich Menschen auch hinsichtlich ihrer anatomischen und physiologischen Strukturen unterscheiden. Das erweitert den Begriff der «Normalität» und bedingt personalisierte Behandlungen. Gleichzeitig sind diese Veränderungen nie abgeschlossen, wir verändern uns auch heute und in Zukunft. Wer sich als Arzt ausbilden lässt, wird Entwicklungen im Laufe seiner Berufslaufbahn selber feststellen können. Die Medizin wird in fünfzig Jahren anders aussehen und macht kontinuierliches Lernen und Anpassen notwendig.

Den zweiten wichtigen Punkt würde ich generell mit „kritischem Denken“ bezeichnen. Man muss auch in der Medizin selbstkritisch bleiben und anderweitige Erklärungen immer in Betracht ziehen, Lehrmeinungen und Fachbuch-Wissen hinterfragen. Es gibt verschiedene Beispiele dafür, dass unkonventionelle Betrachtungen zu neuen Erkenntnissen über Ursachen und Behandlungen geführt haben. Etwa die Entdeckung der Rolle des Bakteriums Helicobacter pylori bei der Entstehung von Magenentzündungen und Magenkrebs. Generell können wir aus dem Studium des Mikrobioms, das heisst der Gesamtheit der Mikroorganismen, die unseren Körper besiedeln, noch sehr viel lernen. Hier verbergen sich vermutlich noch viele modulierende Krankheitsfaktoren.

Die evolutionäre Medizin ist eine relativ junge Disziplin, die Anfänge gehen auf die 1990er Jahre zurück. Wie kommt es, dass sie in kurzer Zeit so viel Aufmerksamkeit gewonnen hat?

Die Aufwertung der Disziplin hat damit zu tun, dass wir dank ihr immer besser verstehen, wie tiefgreifend evolutionäre Prozesse unseren Körper – und beispielsweise die Krankheitserreger der Umwelt – prägen.

Sie hatten zum Kongress prominente Gäste geladen, unter anderem Nobelpreisträger Harald zur Hausen, der für seine Arbeiten mit Papillomaviren ausgezeichnet wurde. Was war seine Botschaft?

Er hat in einem stimulierenden Vortrag zur Diskussion gestellt, dass es bei verschiedenen Krankheiten bisher unbekannte Ko-Faktoren geben könnte, die man näher erforschen müsste: Beispielsweise einen möglichen Zusammenhang zwischen Milchkonsum und Brustkrebs beim Menschen. Einiges deutetet auf einen nicht identifizierten Faktor in Form von ringförmigen und virenähnlichen DNA-Molekülen in der Milch hin. Ebenso gibt es im Fall der Multiplen Sklerose Hinweise auf virale Ko-Faktoren in der Kuhmilch, die bereits im Säuglingsalter zu einer latenten Infektion führen. Aber erst in Kombination mit dem Epstein-Bar-Virus und Vitamin-D-Mangel entwickele sich daraus eine Schädigung der Nervenzellen. Dies sind nur Hypothesen, wie Harald zur Hausen betonte, aber enorm interessante Ideen, die eine nähere Untersuchung wert sind. Es sind Beispiele für jenes unkonventionelle Denken, das oft zu Fortschritten in der Medizin führt.

Sie und ihre Mitarbeitenden haben unter anderem den BMI (Body-Mass-Index) und die Körpergrösse bei Schweizer Stellungspflichtigen in den letzten 130 Jahren untersucht. Was können wir aus diesen Zeitreihen lernen?

Wir sehen einen kontinuierlichen Anstieg der Körpergrösse. In den letzten Jahren scheint allerdings ein Plateau erreicht worden zu sein. In den letzten 130 Jahren sind die stellungspflichtigen Männer in der Schweizer im Durchschnitt 15 Zentimeter grösser geworden. Das ist enorm viel und zeigt die Anpassungsfähigkeit des Menschen – die Plastizität seines Phänotyps. Interessant wird die Erforschung der Ursachen sein, insbesondere auch bei den von uns festgestellten Gewichtsveränderungen. Wir möchten herausfinden, ob umwelt- und ernährungsbedingte oder genetische Gründe dafür verantwortlich sind.

Wir können aufgrund des umfangreichen und einmaligen Datenmaterials sehr differenziert bis auf einzelne Gemeinden beschreibende Aussagen über längere Perioden machen. So sehen wir, dass die Menschen in Appenzell Innerrhoden noch immer die Kleinsten sind und gegenüber den Ausserrhodnern nicht aufgeholt haben.

Biotherapien mit Würmern, Fliegen oder Bakteriophagen erleben dank der evolutionären Medizin eine Renaissance. Wieso?

Menschen waren früher tendenziell stärker mit mikrobiellen Keimen aus der Umgebung belastet als heute. Darauf beruht die sogenannte «Hygiene-Hypothese», der zufolge gewisse Krankheiten mit unserem sehr sauberen Umfeld zusammen hängen, zum Beispiel Autoimmunerkrankungen und Allergien. Biotherapien mit Mikroorganismen basieren zum Teil darauf, dass sie unseren Körper und sein Immunsystem mit Komponenten der ursprünglichen Umwelt konfrontieren. Aus evolutionärer Perspektive hat sich der Körper vielleicht noch nicht an die heutige Umwelt ganz angepasst, was diese Biotherapien zu kompensieren versuchen.

Das Institut für Evolutionäre Medizin an der UZH ist vor knapp einem Jahr gegründet worden. Wie weit sind Sie mit dem Aufbau?

Das Institut ist aus dem früheren, kleineren Zentrum für Evolutionäre Medizin hervorgegangen, das ich vor viereinhalb Jahren gegründet habe. Dank einem tollen Team ist der Auf- und Ausbau praktisch bereits abgeschlossen. Wir sind sehr gut vernetzt, was auch dieser Kongress gezeigt hat. Es war übrigens der erste seiner Art in Europa. Auch international betrachtet ist die evolutionäre Medizin wie schon gesagt ein relativ neues Gebiet. Das heisst, wir sind in Zürich verdankenswerter Weise sehr gut aufgestellt und gehören weltweit betrachtet zu den führenden Institutionen auf diesem Gebiet.