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Kinderbuch-Forschung

Erst streicheln, dann öffnen

Sprechende, streitende, beissende Bücher: Im neuen Nationalfondsprojekt «Poetik des Materiellen» untersuchen Forscherinnen und Forscher der UZH, wie das Buch und das Lesen in Kinderbüchern zum Thema werden. 
Marita Fuchs
Lorenz Frølich illustrierte «Das ABC-Buch» von H.C. Andersen aus dem Jahr 1858. Der Hahn kommentiert das ABC mit Humor. (Bild: zVg.)

Zum Geburtstag bekommt Harry Potter das «Monsterbuch der Monster» von seinem Freund Hagrid geschenkt. Dieses Buch hat grässliche Zähne, es schnappt und beisst und kann nur geöffnet werden, wenn man ihm zuvor den Rücken streichelt.

Mit der Thematisierung des Buchs im Kinderbuch steht die Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling in einer langen Tradition. Bereits der dänische Schriftsteller Hans Christian Andersen thematisierte mehr als hundert Jahre zuvor das Lesen und die Erfahrung mit dem Medium Buch in seinen Erzählungen. Er schrieb sogar sogenannte «Buchmärchen» von sprechenden Büchern, die regelrechte Streitreden halten. Im «ABC-Buch» Andersens heisst es an einer Stelle: «Als das alte ABC-Buch auf den Fussboden fiel, schlug der Hahn in dem grossen A mit den Flügeln, flog auf und setzte sich auf eine Kante des Bücherschrankes, glättete mit dem Schnabel sein Gefieder und krähte, dass es schmetterte.»

Die Grinsekatze verschwindet. John Tenniel, Illustrator von «Alice’s Adventures in Wonderland» (1865), arbeitete eng mit dem Autor Lewis Carroll zusammen. (Bild: zVg.)

Anstoss durch Walter Benjamin

Andersen legte viel Wert darauf, wie seine Bücher gestaltet waren: Er bestimmte die Illustrationen, verhandelte mit den Verlegern über Form, Farbe, Papier und Typographie. Inwiefern sein Schreiben durch seine Vorstellung vom gedruckten Buch beeinflusst wurde, ist eines der Forschungsthemen des neuen Nationalfondsprojektes «Poetik des Materiellen. Neuerfindungen des Buchmediums in der Kinderliteratur», an dem fünf Forschende der UZH beteiligt sind.

Die Projektleiter, Nordistikprofessor Klaus Müller-Wille und Ingrid Tomkowiak, Professorin für Populäre Literaturen und Medien, wollen das Thema «Lesen» und die Auseinandersetzung mit dem Medium «Buch» in der Kinderliteratur analysieren. Dabei gehen sie der Frage nach, wie stark die Autorinnen und Autoren auf die materielle Gestaltung der gedruckten Ausgabe ihrer Bücher Einfluss nahmen und wie sich das wiederum auf die Texte auswirkte.

Lesen als Thema im Kinderbuch: Elsa Beskows Schreibstil war den Werken von Hans Christian Andersen verbunden. Ihre zahlreichen Kinderbücher hat sie selbst illustriert. (Bild: zVg.)

So öffnen die Forschenden die philosophisch geprägte Theoriedebatte zur Materialität und Medialität für die Kinderliteraturforschung. «Wir möchten die Kinderliteraturforschung an aktuelle literatur- und medienwissenschaftliche Diskurse zur Intermedialität anschlussfähig machen», sagt Müller-Wille. Gefragt, wie er auf dieses Thema gestossen sei, nennt er den Philosophen Walter Benjamin, der sich in mehreren Essays mit Kinderbüchern befasst hat.

Gesamtkunstwerk Buch

Im Zentrum der Analyse stehen Texte von Hans Christian Andersen, Lewis Carroll, Elsa Beskow und Tove Jansson. Die vier Autoren sind je einer mediengeschichtlichen Epoche zuzuordnen. Auf jeweils unterschiedliche Art setzten sie sich mit dem Buch als Gesamtkunstwerk auseinander. Ausser dem Engländer Lewis Carroll stammen die Autoren aus dem skandinavischen Raum.

«Die Kinderliteratur und auch ihre Erforschung haben in Skandinavien einen hohen Stellenwert, während sie im deutschsprachigen Raum eher marginalisiert sind», erklärt Ingrid Tomkowiak.

Buchcover des Muminbabdes «Mumin, wie geht’s weiter?» («Hur gick det sen?», 1952). Aufwendig die grafische Ausgestaltung: Verschieden geformte Aussparungen gehören zum Konzept der Seiten. (Bild: zVg.)

Poetik des Nonsens

Ingrid Tomkowiak richtet zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher ihr besonderes Augenmerk auf den Klassiker der englischen Kinderbuchliteratur: «Alice im Wunderland» von Lewis Carroll aus dem Jahr 1865. «Wie Andersen nimmt auch Carroll in seinen Texten auf das Lesen, Schreiben und das Buch Bezug», sagt Tomkowiak. Ganz zu Beginn etwa lässt er Alice über das Medium Buch reflektieren: «[...] ‘what is the use of a book’, thought Alice, ‘without pictures or conversations?’»

Carroll war wie Andersen intensiv und bis in typografische Details hinein an der Gestaltung seiner Bücher beteiligt. Sein Erzählverfahren zeichnet sich jedoch durch eine ebenso planvolle wie sprunghafte Anordnung von Zeit, Raum und Handlung aus: einer Poetik des Nonsens. «Wer gerät nicht ins Nachdenken über Materialität, wenn die Katze grinsend erscheint und wieder verschwindet?», sagt Tomkowiak.

Psychedelischer Trip

Tomkowiak und Lötscher gehen aber noch einen Schritt weiter: Sie analysieren die Adaptionen von «Alice im Wunderland» im Film. Es gibt über zwanzig Filme, die Alices Geschichte nach- oder weitererzählen. Ein interessanter Aspekt dieser medienübergreifenden Analyse: Bei den Filmen dient oft die Musik als Mittel der Verunsicherung; etwa in der Lesart von Jonathan Millers BBC-Serie von 1966, wo Alice' Gang durchs Wunderland als psychedelischer Trip umgesetzt wird. Tabla-Klänge des indischen Musikers Ravi Shankar sollen die Zuschauer in einen Trance-Zustand versetzen, der Alice' Erfahrung im Wunderland entspricht.

Wie geht es weiter?

Die Skandinavistin Petra Bäni wird die Arbeit von Elsa Beskow analysieren, der bekanntesten Bilderbuchkünstlerin Schwedens. Anders als die ältere Forschung, die das Werk der Buchkünstlerin besonders aus biografischer Sicht betrachtete, wählt Bäni eine Perspektive, die sich mit Beskows reformpädagogischem Ansatz auseinandersetzt.

Die Skandinavistin Kathrin Hubli wird Materialitätsaspekte im Schaffen der finnlandschwedischen Malerin und Autorin Tove Janssons untersuchen. Die «Mumin-Bücher» von Tove Jansson zeichnen sich durch eine aussergewöhnliche Gestaltung aus, die das bedruckte Material in die Erzählung einbezieht und darüber Fragen des Erzählens selbst aufwirft. So gilt etwa das Bilderbuch «Hur gick det sen? (Wie geht es weiter)» gar als Meisterwerk künstlerischer Buchgestaltung.