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Asperger-Syndrom

Was Psychoanalytiker von Autisten lernen können

Es fällt ihnen schwer, soziale Kontakte zu knüpfen, sie gelten als Nerds, und Small Talk ist ihnen ein Graus. Autisten mit Asperger-Syndrom zeigen viele Züge, die jeder von uns an sich selbst entdecken kann. An der UZH treffen sich Mitte Juni Fachleute, die dem Phänomen Autismus von klinischer und kultureller Seite auf den Grund gehen wollen. Einer von ihnen ist der Psychoanalytiker Peter Schneider. 
Interview: Marita Fuchs
Betrachtet das Phänomen Autismus aus neuer Perspektive: Psychoanalytiker Peter Schneider.

Herr Schneider, die Begriffe Autist oder Autismus werden heute inflationär gebraucht. Schnell einmal wird eine bestimmte Verhaltensweise als autistisch abgestempelt. Wie kam es dazu?

Peter Schneider: Die Popularisierung des Begriffs Autismus hängt mit dem Bekanntwerden des Asperger-Syndroms in Amerika zusammen. Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger beschrieb Fälle autistischer Störungen, die – im Unterschied zu denen des Kinder- und Jugendpsychiaters Leo Kanner beschriebenen – zu den weniger schweren Formen gehören. Obwohl Hans Asperger seine Forschungsergebnisse bereits in den 40er Jahren veröffentlichte, wurden sie erst in den letzten dreissig Jahren breit rezipiert und bekannt.

Welche Störungen beschreibt Asperger?

Schneider: Es sind Verhaltensweisen, die wir ein Stück weit auch an uns selbst oder anderen wiedererkennen. Bei Kindern kann sich die Neigung zu autistischem Verhalten in einer besonderen Affinität zu Zahlen zeigen. Sie listen zum Beispiel akribisch Fussballresultate auf, zählen alle Haltestellen des Tramnetzes und kennen sie auswendig oder können sämtliche Dinosauriernamen aufsagen. Auf der anderen Seite besteht ein Mangel an spontaner Hinwendung zu anderen Kindern oder Erwachsenen. Autistische Kinder können oft die Mimik anderer nicht deuten und zeigen repetitive und stereotype Verhaltens- und Interessensmuster, eben etwa die Fixierung auf Dinosaurier.

Mein Sohn konnte auch viele Dinosaurier auswendig hersagen.

Schneider: Ja, das ist es ja gerade. Die inflationäre Benutzung des Begriffs Autismus in unserem Alltag steht damit in Zusammenhang, dass wir alle an uns selbst oder anderen autistische Züge erkennen.

Es ist ja eigentlich wünschenswert, wenn man gut mit Zahlen oder Daten umgehen kann.

Schneider: Die Faszination gegenüber autistischen Störungen ist auch im Zusammenhang zu sehen mit der Hochbegabten-Diskussion. Wie autistische Kinder fallen auch hochbegabte manchmal negativ auf, bis sie zum Beispiel einen Preis bei «Jugend forscht» gewinnen. Auch autistische Kinder haben häufig besondere Begabungen, doch die Grenzen zwischen dem, was noch «normal» und was auffällig ist, sind fliessend.

Neben der Popularisierung des Asperger-Syndroms in Amerika hat auch die technologische Entwicklung dazu beigetragen, dass Autismus zu einem gesellschaftlich relevanten Thema wurde. Mit dem Aufkommen der Informationstechnologie eröffnete sich für Autisten ein Feld, auf dem sie sich besonders hervortun konnten. Das, was vorher als Mangel gesehen wurde, wurde plötzlich zu einer besonderen Begabung.

Der Software-Konzern SAP kündigte kürzlich an, dass er Hunderte Autisten zu Software-Testern und Programmierern ausbilden will. Was halten Sie davon?

Schneider: Der Konzern kommuniziert nach dem Motto: Tue Gutes und rede davon. Die Firma poliert damit jedoch nicht nur ihr Image auf. Sie wird von den Fähigkeiten der autistischen Mitarbeiter profitieren.

Beschwören wir jetzt nicht das Idealbild des hochbegabten, aber schrulligen Nerds? Ein Bild, das mit den wirklichen Leiden der Betroffenen gar nichts mehr zu tun hat?

Schneider: Die Autistenbewegung hat den Satz geprägt: «If you know one autist, you know one autist.» Autisten legen zu Recht Wert darauf, dass Autismus nicht eine Beschreibung ist, die alles erklärt.

Es gibt allerdings autistische Züge, die man tatsächlich auch als «nerdig» bezeichnen könnte, die einerseits dem Klischee entsprechen, andererseits aber auch mit den besonderen Begabungen der Autisten zu tun haben.

Zeichnet der Film «Rain Man» aus dem Jahr 1988 ein realistisches Bild?

Schneider: Der Schauspieler Dustin Hoffman spielt im Film einen Menschen mit einer schweren Störung. Und doch sitzt er nicht sprachlos dumpf in der Klinik. Es wird gezeigt, dass man mit ihm kommunizieren kann, sobald man bereit ist, in seine Welt einzusteigen. Hoffman und der Regisseur haben sich vor den Dreharbeiten intensiv mit den Erfahrungen von Eltern mit autistischen Kindern auseinandergesetzt und diese in den Film mit einfliessen lassen.

Behandeln Sie Autisten in ihrer psychoanalytischen Praxis?

Schneider: Nein. Die Psychoanalyse ist ja eine «Rede-Kur», die auf Kommunikation und sprachlichen Austausch aufbaut, was Autisten eben eher fremd ist.

Da man bis heute über die Ursachen des Autismus wenig weiss, oder genauer: Da viele Ursachen gleichzeitig in Frage kommen und eine monokausale Verursachung nicht angenommen werden kann, kann es auch nicht die eine «Behandlung» des Autismus geben. Es geht vielmehr darum, einerseits das Verständnis der Umgebung für die Autisten zu fördern und andererseits die Autisten im Zusammenleben mit den so genannten «Normalen», also den Neurotypischen, zu unterstützen.

In diesem Zusammenhang möchte ich – in Anlehnung an einen unserer Referenten der kommenden Tagung, Professor Ian Hacking – auf das Konzept der Lebensformen des Philosophen Ludwig Wittgenstein verweisen. Autisten befinden sich in einer anderen Lebensform als wir Neurotypischen, zum Beispiel insofern, als sie den Ausdruck eines Gesichts nicht unmittelbar lesen können. Während Autisten sich bemühen, Small Talk zu erlernen, sollten wir lernen, wie man mit einem Autisten kommunizieren kann. Wir müssten dazu vielleicht Schweigen aushalten oder nur dann etwas sagen, wenn wir wirklich auch etwas zu sagen haben.

An der Tagung, die Sie und Ihre Kollegen Mitte Juni an der Universität Zürich durchführen, befassen Sie sich mit der Frage, ob die Psychoanalyse selbst autistisch sei. Wie kommen Sie darauf?

Schneider: Die heutige Psychoanalyse veranschlagt die Bedeutung des Anderen sehr hoch, indem sie die Subjektbildung ausschliesslich über den Anderen begreift. Heisst: Die Psyche wird erst durch den Anderen belebt und enträtselt.

Autisten sind jedoch Menschen, für die der Andere wenig Bedeutung hat. Hier steckt die Psychoanalyse in einer Sackgasse, weil sie zum Autismus wenig sagen kann, ausser den Autisten «zum Anderen bekehren» zu wollen. Insofern bleibt sie gegenüber dem Phänomen des Autismus selbst autistisch. Vielleicht aber kann das Phänomen des Autismus seinerseits die Psychoanalyse belehren. An der kommenden Tagung wollen wir auch diesem Apekt nachgehen.