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Linguistik

Wie schmeckt eine Zitrone?

Sauer natürlich. Genauer können wir den Geschmack einer Zitrone nicht beschreiben – dafür fehlen uns die Worte. Über Farbe und Duft einer Rose dagegen verfassen wir mehrstrophige Gedichte. Warum ist unser Wortschatz für Geschmackswahrnehmungen so klein? Dieser Frage geht das interdisziplinäre Forschungsprojekt SenS nach, an dem auch die Universität Zürich beteiligt ist.
Alice Werner

Interview mit Larissa Bieler, Doktorandin in der Abteilung Linguistik an der UZH

Was für Auffälligkeiten gibt es in Bezug auf den Geschmackswortschatz des Deutschen?

Der grossen Fülle an Sinneseindrücken stehen im Deutschen mit den fünf genuinen Geschmackswörtern süss, sauer, salzig und bitter ein erstaunlich kleiner Wortschatz gegenüber. Daneben scheint mittlerweile noch scharf zum zentralen Geschmackswortschatz des Deutschen zu zählen. Dennoch ist der einschlägige Geschmackswortschatz weit weniger ausdifferenziert als etwa der Wortschatz des Farbensehens.

Natürlich ist das reichhaltige Spektrum unserer Geschmackswahrnehmung damit nicht erfasst: Im Alltag sprechen wir sehr viel differenzierter über Geschmack. Im Forschungsprojekt SenS (Sensory Language and the Semantics of Taste) haben wir – basierend auf Analysen von Wörterbüchern, schriftsprachlichen Korpora, gesprochensprachlichen Daten aus Fokusgruppen und Assoziationstests – aktuell einen Geschmackswortschatz von insgesamt tausend Wörtern ermittelt.

Auch wenn dieses Gebilde ständig in Bewegung ist und sich historisch verändert, ergibt sich strukturell ein relativ einheitliches Bild: Geschmackswörter beschreiben nicht nur eine Geschmacksqualität, sondern bezeichnen – wie beispielsweise würzig, geschmacklos, fad, mild, pikant – die Geschmacksintensität oder – wie cremig, knusprig, knackig – die Textur oder Konsistenz eines Produkts.

Wie schmeckt eine Zitrone? Süss, sauer, salzig und bitter reichen meist nicht aus, um einen Geschmack treffend zu beschreiben. Dannn kommen unsere anderen Sinnesorgane zum Zug: Pommes schmecken schlabbrig und eine Zitrone spritzig.

Bei der Verbalisierung von Geschmackswahrnehmungen spielen also wertende Ausdrücke eine grosse Rolle. Ein Käse, der nach wenig schmeckt, kann als fad (negativ) und als mild (positiv) charakterisiert werden. Und wenn wir einen Käse als farblos bezeichnen, nutzen wir sprachlich aus, dass wir alle zu synästhetischen Empfindungen fähig sind. Die Verwendung von Synästhesien, Metaphern, Metonymien, lexikalischen Innovationen oder Situationsbezügen sind sprachliche Strategien, um die reichhaltigen Geschmackseindrücke überhaupt in Worte fassen zu können. Der Mangel an expliziten Geschmacksausdrücken kann so problemlos ausgeglichen werden.

Ist die Semantik des Geschmacks im Schriftdeutschen anders als im Schweizerdeutschen?

Dass Unterschiede bestehen, zeigt sich bereits an den schweizerdeutschen Wörtern Gschmack und schmöcka selbst. Schmecken steht bei uns für beides: schmecken und riechen. In Deutschland wird da sprachlich differenziert. Das ist aber kein Defizit unseres Dialektes, vielmehr zeigt sich im Schweizerdeutschen die enge Verbindung von Geruch und Geschmack – die während des Essens ja auch tatsächlich da ist. Das kann mit ein Grund sein, wieso wir gerne das französische Lehnwort goût zu Hilfe nehmen, um uns eindeutig auf den Geschmackssinn zu beziehen.

Auch in Bezug auf die Lexik sind Unterschiede festzustellen. Als wir in unseren Testgruppen mit Personen hochdeutscher Muttersprache über Käse gesprochen haben und das Wort rezent verwendeten, wurde es nicht auf Anhieb verstanden. Auch das Adjektiv fein im Sinne von wohlschmeckend wird in Deutschland so nicht verwendet. Weitere Helvetismen sind: währschaft, räss oder auch mastig. Diese sprachlichen Variationen können wertvolle Quellen sein, um einen Einblick in die kulturelle Konstruktion unseres Geschmackssensoriums zu erhalten.

Wenn Menschen über Essen sprechen: Was für kulturelle Prägungen fliessen hier mit ein?

Ein Wort kann je nach Geschlecht, Herkunft, Alter oder Bildung des Sprechers sowie je nach Kontext eine andere Bedeutung haben. Reden über Geschmack ist kulturell verschieden. Den sensorischen Eigenschaften eines Lebensmittels stehen somit die historisch gewachsenen und kulturell geprägten sprachlichen Bezeichnungen für die entsprechenden Wahrnehmungen gegenüber.

Ein roter Apfel wird sofort mit süss assoziiert, ein grüner mit sauer: Bei der Verbalisierung von Geschmackswahrnehmungen spielt das Visuelle eine wesentliche Rolle.

Interessant ist nun die Frage, ob man auf Italienisch den Geschmack von Käse anders wahrnimmt, weil man ihn eben auch als süss/dolce bezeichnen kann – was in der Schweiz nicht üblich ist. Die kulturelle Hochwertung von Wein beispielsweise hat zu einer Explosion der Weinsprache geführt – möglicherweise geht diese sprachliche Differenzierung auch mit einer geschmacklichen Differenzierung einher. Die Sprache belebt den Geschmack – und umgekehrt. Geschmack steht somit im Spannungsfeld von Kultur, Biologie und Sprache.

Welche Probleme treten im Alltag bei Verbalisierungen von Geschmacksempfindungen auf?

Da Reden über Geschmack in spezifischer Weise subjektiv und individuell ist, können Bedeutungsunsicherheiten und Verständigungsprobleme entstehen. Wenn jemand sagt Dieser Kaffee schmeckt bitter, dann kann der Gesprächspartner zwar probieren und möglicherweise zustimmen, er kann aber nie genau wissen, was der andere geschmeckt hat und ob er mit dem Ausdruck bitter dasselbe meint. In Alltagssituationen bereitet uns das Reden über Geschmack in der Regel keine Probleme.

Schwierigkeiten können dort entstehen, wo ganz klar sein muss, was ein Wort wie frisch eigentlich bedeutet: Sind nun Bohnen aus der Tiefkühltruhe frisch – oder sind es die frisch gepflückten? Und warum wird Frischkäse mit Edelschimmel immer noch Frischkäse genannt? Geschmackswörter sind schwierig zu kontrollieren, sie sind hochgradig polysem und vage. Trotzdem braucht man beispielsweise in der Lebensmittelsensorik, in der Aromaindustrie, im Marketing oder bei den gesetzgebenden Lebensmittelbehörden objektive Definitionen.

An unserer Konferenz «Talking about Taste» hat sich gezeigt, wie schwierig es für multinationale Unternehmen ist, für verschiedene Sprach- und Kulturkontexte eine gemeinsame, neutrale Geschmackssprache zu entwickeln.

Können Sie Ihren Arbeitsschwerpunkt Gesprächslinguistik näher umreissen? Mit welchen konkreten Fragestellungen beschäftigen Sie sich?

Geschmack ist ein relationales, interaktives oder auch «dialogisches» Phänomen. Geschmack kann nur im und durch den Dialog verständlich gemacht werden. Die Bedeutung von Geschmackswörtern und damit auch das gemeinsame Verständnis über eine Geschmacksempfindung werden in Gesprächen kommunikativ ausgehandelt und hergestellt.

Wenn man nun Gespräche über Geschmackserlebnisse audiovisuell aufzeichnet und in Form von Transkripten genauer analysiert, erkennt man eine grosse Vielfalt von Strategien und Formulierungsmustern, die dazu beitragen, die für ein gemeinsames Verständnis nötige Intersubjektivität zu bilden. Auch der Einsatz von Gestik oder die Prosodie spielen hier eine wesentliche Rolle.

Es stellt sich dann auch die Frage, ob und in welcher Weise das Medium Sprache unsere Geschmackswahrnehmung selbst beeinflussen kann. Denn mit Sprache stellen wir die Welt auch her – und gerade die Welt, die nicht «von aussen» zugänglich ist.