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Erziehung und Gewalt

Die Schutzrechte für Kinder genügen nicht

Eine Ohrfeige gegenüber Erwachsenen ist in der Schweiz strafbar. Bei Kindern jedoch kann das Züchtigungsrecht als Rechtfertigung herangezogen werden. Dass Erwachsene vor Gewalt besser geschützt sind als Kinder, findet die Juristin Nadine Ryser untragbar. In ihrer Dissertation begründet sie unter anderem den Grundsatz: Gleiches Recht für Gross und Klein. 
Cornelia Kuster

Gewalt an Kindern lässt niemanden kalt. Das zeigt sich auch am medialen Aufsehen. Wie zum Beispiel im Fall eines Vaters, der seine Kinder systematisch im Namen Gottes gezüchtigt hatte. «Diese Geschichte hat jeden berührt», sagt Nadine Ryser, die selbst bei der Gerichtsverhandlung des Geschworenengerichts Zürich Ende 2010 dabei war.

Nadine Ryser behandelt in ihrer Dissertation, die vom Forschungskredit der Universität Zürich finanziert wird, jedoch nicht nur drastische Ausübung von Gewalt an Kindern, sondern es geht ihr auch um den erzieherischen Alltag. Konkret um die Rolle der Justiz beim Kinderschutz, um Interventionsmöglichkeiten, aber auch um Interventionsgrenzen. Zudem analysiert sie die Anwendung von nationalen und internationalen Schutzrechten für Kinder.

Einsam und traurig: Gewaltakte an Kindern heute weniger toleriert als früher.

Gewalt an Kindern werde heute zum Glück weniger toleriert als früher, sagt Ryser. Noch vor einigen Jahren gehörten körperliche Züchtigungen zum täglichen Erziehungsverhalten. In neuerer Zeit begegne man Kindern mit mehr Respekt.

Dass psychische und physische Gewaltakte zurückgegangen sind, sei auch eine Folge des rechtlichen Schutzes, meint Ryser. Seit 2000 ist in Artikel 11 der Bundesverfassung das Recht von Kindern und Jugendlichen auf besonderen Schutz der Unversehrtheit und auf Förderung und Entwicklung explizit verankert. Zudem würden internationale Normen wie die Uno-Kinderrechtskonvention den Mitgliedstaaten Pflichten zum Schutz der Kinder auferlegen.

Züchtigungsrecht als Rechtfertigungsgrund

Trotz dieser Fortschritte im KInderschutz gibt es auch dunkle Flecken. «Viele meinen, wir hätten in der Schweiz genügend Schutzrechte für Kinder», sagt Ryser, «doch das stimmt nur teilweise. Das rechtliche Instrumentarium ist zwar vorhanden, aber über die Anwendung und Umsetzung der Schutzbestimmungen ist man sich nicht wirklich einig.» Damit sei die Schweiz rückständiger als verschiedene Nachbarländer.

Selbstverständlich ist auch in der Schweiz Gewalt an Kindern nicht einfach erlaubt. Sie kann aber durch das elterliche Erziehungsrecht gerechtfertigt werden. Eine Tätlichkeit wie eine Ohrfeige ist gegenüber Erwachsenen strafbar, gegenüber dem eigenen Kind kann jedoch gemäss herrschender strafrechtlicher Lehre das Züchtigungsrecht als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden. Strafrechtler gestehen den Eltern also auch heute noch ein Züchtigungsrecht zu, das geringfügige körperliche Gewalt an Kindern toleriert.

Rechtwissenschaftlerin Nadine Ryser plädiert für einen gewaltfreien Umgang mit Kindern in der Familie.

«Diese Interpretation ist stossend. Kinder geniessen zwar viel Schutz, doch in dieser Hinsicht sind die Erwachsenen besser geschützt als Kinder», sagt Ryser. Dennnoch will sie Eltern nicht vorgängig kriminalisieren, wenn ihnen einmal die Hand ausrutscht. Sie wünscht sich vielmehr, dass die Gesellschaft ihre Einstellung zur Gewalt ändert und führt dabei Schweden als gutes Beispiel an: Dort wurde in den 1970er-Jahren das Verbot der Züchtigung zu Erziehungszwecken eingeführt. Dies hat dazu geführt, dass schwedische Eltern heute eine andere Einstellung zur Gewalt haben und Gewaltakte nicht mehr akzeptiert werden.

Gesetzliche Verankerung gewaltfreier Erziehung

Ein solcher Bewusstseinswandel brauche viel Zeit, meint Ryser. In Schweden habe dieser  Prozess rund dreissig Jahre gedauert.

In Deutschland wurde im Jahr 2000 ein Gesetz für gewaltfreie Erziehung eingeführt. Die Doktorandin ist überzeugt, dass sich auch im Nachbarland die Einstellung zur Gewalt gegen Kinder grundsätzlich ändere, was auch eine noch laufende empirische Studie nach nunmehr elf Jahren vermeldet habe.

Ryser wird in ihrer Dissertation unter anderem einen Vorschlag erörtern, der in der Schweiz nicht ganz neu ist: Die gesetzliche Verankerung der gewaltfreien Erziehung. Die letzte parlamentarische Initiative in dieser Sache datiert aus dem Jahr 2007. Das Parlament lehnte sie damals mit der Begründung ab, das vorhandene rechtliche Instrumentarium genüge. Ryser widerspricht: «Es bedarf der Signalwirkung durch die Schaffung eines Gesetzes; nur so wird ein Umdenken stattfinden und sind Kinder letztlich besser geschützt.»