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Als ich im Herbst 1988 meine Assistentenstelle am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte angetreten hatte, verbrachte ich die ersten Arbeitstage vorwiegend damit, das mir bislang nur oberflächlich bekannte Institut zu durchstöbern.
Es waren Semesterferien, und so war in diesen Tagen die grosszügige Wohnung an der Rämistrasse 33, in der die Osteuropa-Abteilung damals untergebracht war, ein zwar verkehrsreicher, aber ziemlich verlassener Ort. Die beiden anderen Assistenten waren verreist, der Lehrstuhlinhaber forschte auf der Forch und Studierende liessen sich keine blicken.
Ich hütete also ein menschenleeres Institut, was mir insofern entgegenkam, als ich doch mit einer gehörigen Portion Unsicherheit ins Assistentenleben gestartet war: Konnte ich bei irgendwelchen Fragen kompetent Auskunft geben?
Am achten Tag ertönte die schrille Glocke der Wohnungstür – jemand begehrte Einlass! Ich öffnete und sah mich einem Mann im mittleren Alter gegenüber, der sich auffallend weit vom Eingang zurückgezogen hatte und mit seiner Körperhaltung unmissverständlich signalisierte: Ich will hier gar nicht rein!
In stark gebrochenem Deutsch erklärte mir der Fremde, dass ein Irrtum vorliege. An der ETH habe man ihm mit Penetranz weismachen wollen, dass hier an der Osteuropa-Abteilung Polonica, also Literatur zu Polen, zu finden seien. Ihm sei aber klar, dass dies blanker Unsinn sei.
Glücklich, dem Manne helfen zu können, erklärte ich ihm, er sei durchaus am richtigen Ort gelandet, und ich sei ihm bei der Benutzung der Bibliothek gerne behilflich. Mein polnisches Gegenüber guckte mich erst entgeistert an, als sei es versehentlich in einen KGB-Kaderkurs geraten, dann liess es seiner Empörung freien Lauf: Polen Osteuropa zuzuordnen sei wissenschaftlicher Frevel und eine Beleidigung einer vom Schicksal gebeutelten Nation obendrein.
Als frischgebackener Assistent fühlte ich mich in dieser Situation dazu verpflichtet, die politisch-geografische Konzeption unserer Abteilung zu rechtfertigen, brachte den Besucher damit aber erst recht in Rage. Er stürzte ins Institut und forderte mich ultimativ auf, eine Europakarte vorzulegen. Meine Reaktion hierauf fiel – im Nachhinein muss ich es zugeben – mehr tollpatschig denn situationsgerecht aus, führte ich den Unbekannten doch in den Seminarraum vor die grosse Osteuropa-Karte. «Ganz Europa!», herrschte er mich an.
Es dauerte eine Weile, bis ich einen Atlas mit einer physischen Europakarte gefunden hatte. Nun wurde ich aufgefordert, mit dem Finger von Gibraltar zum Nordural und von Island zum Bosporus zwei Diagonalen zu ziehen, um mittels des Kreuzungspunktes ein für allemal zur Kenntnis zu nehmen, wo die Mitte Europas liegt.
Damit beruhigte sich der Besucher. Er schaute sich noch kurz bei den polnischen Büchern um, verabschiedete sich dann beiläufig und ging. Ich bin dem leicht schroffen Polen nie wieder begegnet, erinnere mich aber mit einer gewissen Dankbarkeit an ihn, führte er mir als jungem Historiker doch anschaulich vor Augen, was für das Verstehen einer nationalen Befindlichkeit unabdingbar ist: Perspektivenbewusstsein und viel Empathie.
Nach meiner Assistentenzeit wurde ich Geschichtslehrer an der Kantonsschule Oerlikon und damit zwangsläufig Universalhistoriker. Der meiste Stoff, den ich am Gymnasium zu unterrichten hatte, war mir im Studium nie begegnet, doch halfen die im Osteuropa-Studium erworbenen Kompetenzen, neue Wissensgebiete zu erschliessen.
Wenngleich Osteuropa in meinem heutigen beruflichen Leben keine besondere Rolle mehr spielt, ist das Anliegen geblieben, den Schülerinnen und Schülern Einblicke in diesen nach wie vor weniger bekannten Teil Europas zu verschaffen.
Der bisherige Höhepunkt dieser Bemühungen war eine Reise nach Litauen im Jahre 2007: Das Orchester und der Chor unserer Schule konzertierten in Vilnius und Nida. Wir gaben «Schweizer Klänge» zum Besten und sangen zusammen mit dem Chor des befreundeten Užupis-Gymnasiums litauische Lieder.
Damit die Reise auch zu einem Bildungserlebnis werden konnte, bereitete ich meine Schüler gewissenhaft vor. Ich brachte ihnen die Geschichte und Kultur Litauens näher und machte sie mit landeskundlichen Aspekten vertraut. Dazu gehörte auch der Hinweis, dass die Litauer mit dem Dorf Purnuškės unweit der Hauptstadt die geografische Mitte Europas für sich reklamieren. Zugegeben, das ist eigentlich nur touristisch relevant, aber es steht Schülerinnen und Schülern aus dem europäischen Wohlstandszentrum nicht schlecht an, zu wissen, dass unser Kontinent verschiedene Mitten kennt.