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Die Schweiz und Europa

Erfolgsmodell mit Zukunft

In einer staatsmännischen Rede rief Bundesrat Didier Burkhalter gestern an der Universität Zürich die Schweiz dazu auf, sich ihrer liberalen Grundwerte zu besinnen. Unser «Sonderfall» habe ausgezeichnete Zukunftsaussichten, wenn es gelinge, unsere wichtigsten Ressourcen wieder zu aktivieren: Reformkraft und Fortschrittsoptimismus. Dies sei inmitten einer verunsicherten Europäischen Union dringend nötig.
Adrian Ritter

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Die Schweiz ist ein Erfolgsmodell. So erfolgreich, dass sie derzeit darunter leidet. Unser Land ist so vertrauenswürdig, dass der starke Franken zum überstarken Franken wurde. Kein Wunder sind wir so attraktiv, meinte Didier Burkhalter und präsentierte eine im Laufe des Referates immer länger werdende Liste der Stärken der Schweiz: Politische Stabilität, Verlässlichkeit, Sozialpartnerschaft, Zusammengehörigkeitsgefühl, wettbewerbsfähigste Volkswirtschaft der Welt.

Die Schweiz in Europa: Umgeben von einem «verunsicherten Goliath».

Beste aller Welten?

Hatte Friedrich Dürrenmatt also recht mit seiner Prognose, die Welt müsse «verschweizern oder untergehen», fragte Burkhalter. Der Beginn einer Verschweizerung lasse sich durchaus feststellen. Die Schuldenbremse etwa, die bieder und bürokratisch anmuten möge, sei «eine genial einfache goldene Regel» und habe sich zum weltweiten Exportschlager entwickelt. Sie stelle die Essenz unserer Wirtschaftskultur dar: ein disziplinierter Umgang mit knappen Ressourcen und Pragmatismus.

Das Gespenst des Niedergangs

Wir dürften uns aber nicht den Luxus eines zu kurzen Gedächtnisses leisten. Auch in der Schweiz ging in den 1990er Jahren «das Gespenst eines allmählichen Niedergangs» um. Düster, ratlos und selbstquälerisch sei die Grundstimmung gewesen. Aber mit liberalen Reformen etwa des Binnenmarktes, Freihandelsabkommen und der Schuldenbremse sei es gelungen, aus der Krise zu kommen: «Die Schweiz hat ihre Krisen stets überwunden, indem sie sich zusammengerauft hat. Was uns verbindet, war stets stärker als das, was uns trennt.»

Den eigenen Weg gehen

Es scheint, als lebten wird derzeit rational betrachtet in einer der besten Welten, so Burkhalter. Trotzdem sei ein Unbehagen da, etwa bei Themen wie Dichtestress, Migrationsdruck und Zersiedlung. Warum dieses Unbehagen? Burkhalter vermutet die Abstiegsängste der Mittelschicht dahinter. Das Selbstverständnis der Mittelschicht als Schwerpunkt der Gesellschaft sei erodiert. Dieser Folge der Globalisierung müsse sich die Politik mit höchster Priorität annehmen.

In der Tat seien die derzeitigen Herausforderungen grösser als diejenigen der 1990er Jahre, meinte Burkhalter mit Blick auf die Gesundheits- und Sozialpolitik, den starken Franken oder den «verunsicherten Goliath» EU.

Wir müssten selbstbewusst weiter unseren Weg gehen, gerade, weil die EU und die USA so unsicher sind. In Bezug auf die weitere Entwicklung der EU sei nur eines sicher: Die Unsicherheit: «Deshalb gilt es, sich auf das zu konzentrieren, was wir in Eigenregie gestalten können.»

Bundesrat Didier Burkhalter an der UZH: «Die Krise wird die liberalen Werte stärken, nicht nur in der Schweiz.»

Der liberale Reflex

Die wichtigste Lektion der Schuldenkrise laute: Der wirtschaftliche Erfolg hat immer politische Voraussetzungen, die immer wieder aufs Neue erkämpft werden müssen. Dazu gelte es, unsere Grundwerte zu revitalisieren. Nicht nur Europa müsse vielleicht verschweizern, auch die Schweiz müsse dies wieder vermehrt tun. Es gelte, die wichtigsten Ressourcen der Schweiz wieder zu aktivieren: Reformkraft und Fortschrittsoptimismus: «Wir brauchen ein ganzheitlich-liberales Programm.»

Der Sonderfall Schweiz zeichne sich gerade durch die «Stärke der liberalen Reflexe» aus. Stets habe die Schweiz der Freiheit den Vorzug gegeben vor der Vereinheitlichung und Gleichmacherei, während Europa stets gefährdet sei, ins Kollektivistische abzugleiten.

Das ganzheitlich-liberale Programm, das sich Burkhalter wünscht, basiert auf den Prinzipien Chancengleichheit, Leistung und Eigenverantwortung. In unsicheren Zeiten nach dem Staat zu rufen, sei keine Lösung. Es sei gerade die Selbstverantwortung, welche die Schweiz unterscheide von der grassierenden Anspruchsmentalität in zahlreichen europäischen Ländern.

Er denke aber nicht, dass etatistisches Denken sich aufgrund der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise ausbreiten werde: «Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Krise wird die liberalen Werte stärken, nicht nur in der Schweiz.»

Robust aufgestellt

Es gelte, einen omnipräsenten Staat zu verhindern, gleichzeitig aber einen starken Staat zu haben, der öffentliche Güter bereitstellt, ohne den Wettbewerb zu behindern. Nicht der schlanke Staat, sondern ein aufgeblähter Staat führt letztlich zu Sozialabbau und gesellschaftlicher Unrast.

Der Staat des 21. Jahrhunderts werde ein Staat sein, der weniger mit finanziellen Ressourcen und mehr mit intelligenten Anreizen und klugen Regulierungen zu funktionieren lernen muss.

Entsprechend gelte es, alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, den Wettbewerb zu stärken. Die Schweizer Wirtschaft sei mit ihrer breiten Diversifizierung robust aufgestellt: «Unsere Unternehmen wissen, wie man innovativer wird und die Produktivität steigert, das hat etwa die einst todgeweihte Uhrenindustrie bewiesen.»

Was die Gesundheitspolitik anbelangt, sollen gemäss Burkhart integrierte Versorgungsnetze die Gesundheitskosten in den Griff zu bekommen helfen. Bei der AHV dürften sich keinesfalls Schulden anhäufen. Nur dank der Zuwanderung von Fachkräften im Rahmen der Personenfreizügigkeit verzeichne die AHV derzeit einen Überschuss von jährlich zwei Milliarden Franken: «Wir haben ein wenig Zeit gewonnen für eine tief greifende Reform, zu der es keine Alternative gibt.»

Exzellenz heisst Offenheit

Die Personenfreizügigkeit gilt es auch aus anderen Gründen zu verteidigen. Wer den bilateralen Weg in Frage stelle, müsse sich bewusst sein, dass ein Ende der Personenfreizügigkeit auch ein Ende der Teilnahme am Europa der Forschung und Bildung bedeuten würde. Dies wäre fatal, denn der globale Wettbewerb im 21. Jahrhundert sei vor allem ein globaler Wettbewerb der Forschungsstandorte. Ohne Teilnahme am europäischen Wissensraum wäre die Exzellenz der Schweizer Wissenschaft und letztlich unsere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stark gefährdet.

«Wer heute ‚Exzellenz’ sagt, sagt auch ‚Offenheit’», so Burkhalter. Schon heute sei die Schweiz hinsichtlich ihrer Freihandelsabkommen weltoffener als die EU. Der bilaterale Weg sei die beste Lösung für die Schweiz und helfe, unsere Souveränität zu bewahren. Klar sei allerdings, dass dieser Weg steiniger werde, wenn die EU weiter wächst oder sich etwa durch eine gemeinsame Wirtschafts- und Fiskalpolitik weiter intergieren sollte.

Was die Zukunft der EU anbelange, so zeigte sich Burkhalter auch hier optimistisch. Auch die EU habe sich seit jeher von Krise zu Krise weiterentwickelt. Fast jede institutionelle Weiterentwicklung der EU sei eine Reaktion auf eine scheinbar ausweglose Situation gewesen.

Das liberalste Land Europas

Die Renaissance der liberalen Werte sei eine Chance für die Schweiz, ihre Identität zu klären. «Wir schwanken seit jeher zwischen zu grossem und zu kleinem Selbstbewusstsein.» Vielleicht könne die gegenwärtige Krise helfen, zu einem realistischeren Selbstbild zu gelangen. Für Burkhalter am liebsten im Sinne von: «Wir sind das liberalste Land in Europa.»