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Internationales Jahr der Chemie

«Chemie ist eine kreative Wissenschaft»

Chemiker gleichen Künstlern, die aus ihrer Fantasie neue Objekte erschaffen, sagt Roger Alberto, Professor für Anorganische Chemie an der Universität Zürich. Und er erklärt auch gleich, weshalb das Image der Chemie korrigiert werden muss.  
Felix Würsten und Thomas Gull

UZH News: Herr Alberto, die Universität und die ETH Zürich führen im Juni unter dem Motto «Kulturleistung Chemie» verschiedene Veranstaltungen zum internationalen Jahr der Chemie durch. Worin genau besteht die Kulturleistung der Chemie?

Roger Alberto: Wir sind heute in der Lage, ein relativ kultiviertes Leben zu führen. Das verdanken wir Errungenschaften, die wir uns im Laufe der Zeit erarbeitet haben. Wir haben Medikamente entwickelt, Kommunikationstechnologien, Textilien, Farben und vieles mehr. All das wäre ohne Beiträge der Chemie undenkbar. Das ist die indirekte Kulturleistung der Chemie.

Daneben gibt es auch noch eine direkte Kulturleistung: In der Chemie findet ein Denkprozess statt, der demjenigen von Kulturschaffenden sehr ähnlich ist. Bildhauer oder Maler erschaffen aus ihrer Fantasie heraus Objekte. Chemiker machen oft etwas Ähnliches: Sie kreieren neue Verbindungen, häufig ohne zu wissen, ob diese Verbindungen später einen konkreten Nutzen haben werden. Der französische Chemiker Marcelin Berthelot brachte es auf den Punkt: «La chimie crée son objet».

Ist die Chemie eine speziell kreative Wissenschaft?

Ich denke, ja. Ingenieure zum Beispiel sind in diesem Sinne nicht kreativ, da sie bei ihrer Arbeit stets von etwas ausgehen, das bereits bekannt ist. Allerdings ist es auch in der Chemie zunehmend so, dass alles einem bestimmten Zweck dienen sollte.

Chemieprofessor Roger Alberto: «Die
meisten Menschen bringen Chemie mit Pharma in Verbindung, aber kaum mit Alltagsdingen wie
Handybildschirmen.»

Wird die Kreativität durch diese Entwicklung eingeschränkt?

Der Zweck zeichnet eine bestimmte Spur vor, und damit wird die Kreativität eingeschränkt. Wenn heute erwartet wird, dass auch die Grundlagenforschung einen Nutzen hat, beeinflusst dies die freie Forschung. Das ist nicht zu vermeiden.

Sie haben es bereits gesagt: Die Chemie hat wichtige Beiträge für unsere Gesellschaft geleistet. Wird diese Leistung in der Öffentlichkeit angemessen wahrgenommen?

Das ist eines unserer Hauptprobleme: Die Chemie wird in der breiten Öffentlichkeit nur sehr beschränkt wahrgenommen. Man nimmt sie vor allem dann wahr, wenn etwas schief läuft, wenn es knallt und stinkt. Die meisten Menschen bringen Chemie mit Pharma in Verbindung, mit Dünger, Fungiziden und giftigen Stoffen, aber kaum mit Alltagsdingen wie Handybildschirmen.

Im Jahr der Chemie soll dieses Bild nun korrigiert werden?

Es ist natürlich nur einen Tropfen auf den heissen Stein, was wir da machen können, aber immerhin: Wir haben die Gelegenheit, uns der Öffentlichkeit zu zeigen.

An den Gymnasien gehört Chemie nicht gerade zu den beliebtesten Fächern. Woran liegt das?

Chemie wird häufig als schwierig empfunden, genauso wie Physik. Die Biologie hat es da einfacher, da man in diesem Fach viel auswendig lernen kann. In der Chemie und der Physik hingegen müssen die Schülerinnen und Schüler gewisse Zusammenhänge verstehen. Wir sind gegenwärtig daran, zusammen mit der ETH Zürich die Ausbildung der Chemielehrer zu verbessern, damit in den Schulen künftig ein moderneres Bild der Chemie vermittelt wird. Mit den heutigen multimedialen Möglichkeiten könnte man die Chemie viel attraktiver präsentieren.

Wenn das Fach in den Mittelschulen einen so schweren Stand hat: Haben Sie Probleme, genügend Studierende zu finden?

Nein, wir verzeichnen in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Zuwachs. Das hängt zum einen damit zusammen, dass junge Menschen wieder vermehrt «etwas Solides» studieren wollen. Zum anderen haben wir unsere Sichtbarkeit gegen aussen verbessert. Am diesjährigen Fakultätstag beispielsweise haben viele Leute an den Rundgängen durch unsere Labors teilgenommen. Solche Veranstaltungen wirken offenbar nachhaltig. Gegenwärtig haben wir sogar zu viele neue Studierende. Für das Praktikum hatten wir im letzten Semester zu wenig Laborplätze.

Wie sind die Berufsaussichten der Abgängerinnen und Abgänger?

Im Grossen und Ganzen gut. Alle unsere Abgängerinnen und Abgänger haben nach dem Abschluss umgehend eine Stelle gefunden – wenn auch vielleicht nicht unbedingt dort, wo sie ursprünglich wollten. Die chemische Industrie bietet heute ja nicht mehr massenhaft Arbeitsplätze für Forscher an.

Welches sind denn heute die grossen Forschungsthemen für die Universitäten?

Die nachhaltige Energieerzeugung wird sicher zu einem wichtigen Thema. Die grosse Frage ist, wie man Sonnenenergie direkt in chemische Energie umwandeln könnte. Wenn es gelingen würde, eine künstliche Photosynthese zu entwickeln, dann wäre das eine ganz grosse Kulturleistung. Nach den katastrophalen Ereignissen in Japan scheint mir klar, dass diese Forschung einen massiven Schub erleben wird.

Ein zweites Thema ist die Gesundheit. Unsere Gesellschaft wird immer älter, Krankheiten wie Alzheimer werden zunehmen, entsprechend gewinnt die pharmazeutische Forschung an Bedeutung. Eine dritte Herausforderung ist die Wasserversorgung. Wie können wir die Menschen mit genügend sauberem Trinkwasser versorgen – etwa in Indien, wo die Situation sehr prekär ist? Da brauchen wir neue Ansätze, zu denen die Chemie wichtige Beiträge leisten kann.

Die Chemie hat immer mehr Berührungspunkte zu anderen Fächern, sei es in der Pharmazie, der Energietechnik oder den Materialwissenschaften. Bleibt sie mittelfristig ein eigenständiges Fach?

Vor fünfzig Jahren konnten die Chemiker noch Moleküle herstellen, ohne zu wissen, ob sie für etwas gut sind. Gerade diese Arbeiten sind heute für uns eine wichtige Inspirationsquelle. Doch Chemie als ‚l’art pour l’art ist’ heute nicht mehr zeitgemäss. Man arbeitet zielgerichteter und ist daher zwangsläufig darauf angewiesen, interdisziplinär zu arbeiten.

Eben, die Forschungsgebiete nähern sich immer mehr an.

Ja, aber jeder hat nach wie vor seine eigenständige Expertise. Wenn Sie in der Biologie einen bestimmen Prozess auslösen oder unterdrücken wollen, dann brauchen Sie ein Molekül, und dieses Molekül können die Chemiker herstellen, nicht die Biologen. Wenn ich als Chemiker umgekehrt ein Molekül habe, von dem ich glaube, es könnte therapeutisch interessant sein, dann bin ich auf die Biologen angewiesen, um das zu bestätigen. Die Gebiete bleiben selbständig, aber das Interface wird durchlässiger.