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Zwangsernährung in der Haft

Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

Dürfen inhaftierte Personen, die sich im Hungerstreik befinden, zwangsernährt werden? Darüber diskutierten Regierungsrat Markus Notter und Professorin Brigitte Tag mit Studierenden. Die Veranstaltung wurde vom Kompetenzzentrum Medizin – Ethik – Recht Helvetiae und vom Kompetenzzentrum Menschenrechte der UZH organisiert. 
Julian Mausbach

Beim Entscheid über eine Zwangsernährung einer inhaftierten Person kommen zwei Rechtsgüter ins Spiel: Einerseits garantieren die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Bundesverfassung das Recht auf persönliche Freiheit, welches auch das Recht beinhaltet, aus dem Leben zu scheiden. Andererseits verpflichten die Bundesverfassung und die EMRK den Staat, das Leben von Menschen zu schützen, insbesondere wenn sich die betroffene Person in staatlichem Gewahrsam befindet.

In der Haftanstalt: Komplexe Entscheidungen zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und der Fürsorgepflicht des Staates.

Aktuell wurde das Thema durch den inhaftierten Walliser Hanfbauer Bernard Rappaz, der im Juli 2010 nach einem rund zweimonatigen Hungerstreik in den Hausarrest entlassen worden war. Die Walliser Sicherheitsdirektorin Esther Waeber-Kalbermatten war den Forderungen des Hanfbauers entgegengekommen und hatte sich gegen die zuvor diskutierte Zwangsernährung entschieden. Laut Medienberichten hatten die behandelnden Ärzte des Inselspitals Bern bereits zuvor eine Zwangsernährung von Rappaz abgelehnt. Nach der Entlassung Rappaz' in den Hausarrest wurden Stimmen laut, der Staat habe sich erpressen lassen.

Unterschiedliche Ansichten zur Rechtmässigkeit

Brigitte Tag, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der Universität Zürich, verdeutlichte, welche schwierigen und komplexen Entscheidungen im Fall von Rappaz zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen und der Fürsorgepflicht des Staates zu treffen sind. Die unklare Rechtslage führt laut Tag zu unterschiedlichen Ansichten der Rechtmässigkeit von Zwangsernährung.

Weil es auf Bundesebene kein Strafvollzugsgesetz gibt, orientieren sich die zuständigen Ärzte an etwaigen kantonalen Bestimmungen und an den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Die SAMW-Richtlinie lehnt, ebenso wie die Regelungen der World Medical Association (WMA), die Zwangsernährung klar ab. Sie betrachtet Zwangsernährung als unethisch und ungerechtfertigt. Das bestätigte Privatdozentin Tanja Krones von der Klinischen Ethik USZ aus Sicht der Praxis eindrücklich.

Mit dem Inhaftierten reden

Anschliessend präsentierte Regierungsrat Markus Notter, Vorsteher der Direktion des Innern und der Justiz im Kanton Zürich, einen weiteren Fall eines hungerstreikenden Inhaftierten im Kanton Zürich. Dabei machte er deutlich, dass vor allem die Kommunikation mit der inhaftierten Person im Vordergrund stehen müsse und in den meisten Fällen auch zu einer Lösung führe. Unter der Prämisse, dass sich der Staat nicht erpressbar machen dürfe, könnten auf diese Weise die überwiegende Anzahl der Fälle aufgelöst werden, ohne dass die Frage der Zwangsernährung relevant werde oder höchstens am Rande auftauche.

Gewisses Mass an Pragmatismus von Vorteil

Die daraufhin mit dem Publikum geführte Diskussion zeigte die grosse Bandbreite der zu bewältigenden Probleme auf: Aus dem Publikum kamen grundsätzliche rechtliche und ethische Fragen, etwa ob und inwieweit das Selbstbestimmungsrecht von inhaftierten Personen durch eine Inhaftierung eingeschränkt beziehungsweise einschränkbar ist. Es standen auch praktische Fragen zum Umgang mit Hungerstreikenden zur Debatte.

Die allgemeine Tendenz im Publikum: Dem Selbstbestimmungsrecht der inhaftierten Person müsse eine grössere Bedeutung einräumt werden, eine Zwangsbehandlung wurde eher abgelehnt.