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Gerontologietag: Tabus im Alter

«Cicero war ein Frühpensionierter»

Wie lebten Senioren vor 2000 Jahren? Wie gingen sie mit Krankheit oder Sexualität um? Walter Burkert, emeritierter Professor für Klassische Philologie, sieht viele Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Seine Gedanken schildert er heute auf dem 11. Gerontologietag und vorab im Gespräch mit UZH News.  
Marita Fuchs

Herr Burkert, heute spricht man nicht mehr von den «Alten», sondern eher von Senioren oder Rentnern. Wie war das im Altertum?

«Geron» hiess im alten Griechenland alter Mann. Der Wortstamm «Geras» ist eng damit verwandt und kann mit Ehre übersetzt werden. Die Kombination aus «alt» und «geehrt» gehörten damals zusammen. Fast überall gab es einen Rat der Alten, lateinisch Senatus, der geachtet und einflussreich war.

Die Lust stehe dem vernünftigen Lebenswandel entgegen, meint Cicero. Folglich sei es kein Verlust, sondern geradezu ein Geschenk, davon befreit zu sein.

Im Griechischen jedoch änderte sich die Wortbedeutung. «Geras» bekam ein langes «ä». Dieses Wort bedeutete nur noch Alter und trug nicht mehr gleichzeitig die Bedeutung Ehre. So ist im Laufe der Zeit die Verbindung von Ehre und Alter in der Sprache verschwunden.

Sind die Menschen im Altertum nicht viel früher gestorben? Gab es damals überhaupt so etwas wie eine ältere Generation?

Zwar war damals die Kindersterblichkeit sehr hoch, doch die Älteren wurden etwa so alt wie heute. Genau wie heute gab es eine ältere Generation. Es fallen mir viele ein, die alt wurden: Etwa Platon, der Urvater der Philosophie, wurde 81 und war bis zuletzt literarisch tätig. Kaiser Augustus wurde 76. Der Tragiker Sophokles wurde 90.

Es gab auch Frühpensionierte: Als Cicero sein Buch «Cato Maior oder über das Alter» schrieb, war er 61 Jahre alt. In der Einleitung heisst es: «Ich schreibe jetzt als Greis über das Greisenalter.» Cäsar errichtete zu diesem Zeitpunkt seine Diktatur, und der Anwalt Cicero war auch als Politiker kaltgestellt. Deshalb könnte man Cicero als Frühpensionierten bezeichnen.

Mit welchen Tabus waren die Älteren im Altertum konfrontiert?

Es gibt einen Bereich von Tabus, der bis heute im Alter eine grosse Rolle spielt, über den man absolut nicht redet. Das sind die Ausscheidungsfunktionen des Körpers. Sie werden im Alter oft problematisch und spielen bei der Altersbetreuung eine ganz zentrale Rolle. Doch spricht man nicht darüber. Auch Cicero erwähnt es nicht in seiner Schrift über das Greisenalter.

Wir wissen jedoch, dass die Männer häufig Prostataprobleme hatten. Man betitelte diese Krankheit als «Tröpfchenharn». Viele der antiken Philosophen starben daran, so auch Epikur. Er bricht kurz vor seinem Tod das Tabu und schreibt an einen Freund: «Seit sechs Tagen kommt kein Tropfen mehr... Du musst nach meinem Tod die Erbangelegenheiten regeln.» Medizinisch stand man damals der Krankheit völlig hilflos gegenüber.

Wie wurde die Sexualität gelebt?

Damals gab es pornografische Schriften und sicherlich auch Kreise, in denen alles erlaubt war. Doch standen die Älteren wohl nicht so unter dem Druck, sexuell aktiv zu sein, wie es heute der Fall ist. Von Sophokles gibt es eine bezeichnende Anekdote: Als man ihn im fortgeschrittenen Alter von bald 90 Jahren fragte: «Kannst Du es noch mit einer Frau?» soll er gesagt haben: «Ich bin heilfroh, das loszuhaben.»

Wie gingen die Menschen mit dem Tod um?

Alterslos und unsterblich zu sein, war für die Menschen schon immer ein Faszinosum. Schon im Gilgamesch-Epos, einem literarischen Werk aus dem babylonischen Raum und eine der ältesten überlieferten literarischen Dichtungen, wird den Göttern die Unsterblichkeit vorbehalten: Menschen sind sterblich. Die Griechen haben diese Vorstellung übernommen und zuweilen mit Humor beschrieben.

Das zeigt der Mythos von Tithonos, dem Gatten der Morgenröte (Eos). Tithonos wurde von Eos so geliebt, dass sie für ihn von Zeus das ewige Leben erbat. Dies wurde ihr gewährt. Da sie jedoch übersehen hatte, zugleich ewige Jugend für Tithonos zu erbitten, wurde er älter und älter und schrumpfte zuletzt so zusammen, dass am Ende nur noch seine schrille Stimme übrig blieb: er wurde zur Zikade. Heute weiss man zwar vom Körper viel mehr, doch der Tod ist geblieben.

Cicero schrieb mit 61 Jahren einen philosophischen Dialog, «Cato Maior oder über das Alter». Welche Tipps gab er den Älteren seiner Generation?

Cicero streicht die positiven Qualitäten des Alters heraus: Nicht Kraft, Behändigkeit oder Schnelligkeit, sondern Voraussicht, Autorität und Entschlusskraft zeichne es aus. Cicero zieht zum Vergleich die Tätigkeit eines Steuermanns heran, der nicht auf die Masten steigt oder durch das Schiff läuft, sondern ruhig auf dem Hinterdeck sitzt und dabei aber Wichtigeres vollbringt als alle anderen. Das Alter mache den Körper schwach; Krankheit aber rühre von unvernünftigem Lebenswandel her. Also gelte es, den Geist zu stärken.

Die Lust stehe dem vernünftigen Lebenswandel entgegen, meint Cicero. Folglich sei es kein Verlust, sondern geradezu ein Geschenk, davon befreit zu sein. Und schliesslich sei die Nähe zum Tod nicht nur dem Alter zu eigen. Vielmehr habe der Greis schon das Alter, das der Jüngling zu erreichen hoffe. Der Tod sei auch nicht zu fürchten, da dieser entweder die Seele vollständig auslösche oder aber zu einem ewigen Leben führe.

Sie selbst sind 79 Jahre alt. Wie erleben Sie Ihr Alter?

Ich höre nicht mehr so gut, wie noch vor fünf Jahren, und ich hatte einen leichten Schlaganfall. Doch als Geisteswissenschaftler hatte ich nie Probleme mit der Pensionierung. Ich konnte einfach mit meiner Arbeit weitermachen, und lästige Sitzungen und administrative Belange habe ich nicht vermisst. Man stellt natürlich fest, dass man sich die Dinge nicht mehr so gut merken kann: Neues zu lernen ist schwieriger geworden.

Ich beschäftige mit schon seit einiger Zeit mit der Keilschrift. Die ist kompliziert, und man kommt kaum zur Könnerschaft. Doch es ist sehr bereichernd, wenn man weiss, wie Texte überliefert wurden und was sie genau bedeuten.