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Literatur und Avantgarde

Stille Provokateure

Eine feine, kleine Literatur-Schau im Zürcher Cabaret Voltaire geht der Faszination der historischen Avantgardebewegungen nach. Die von Studierenden konzipierte Ausstellung gründet auf einer Sammlung von dadaistischer und surrealistischer Literatur, die sich im Besitz der Universität Zürich befindet.
David Werner
Literatur-Schau im Cabaret Voltaire: Streitschriften gegen den bourgeoisen Kunstbegriff.

Wer im ersten Augenblick meint, die kleine Ausstellung im Cabaret Voltaire mit einem Blick überschauen zu können, sieht sich getäuscht: Auf Anhieb erschliesst sich einem hier wenig. Gesprochene Wortkaskaden aus dem Lautsprecher, die zunächst völlig zusammenhanglos erscheinen, überrumpeln die Besucher. Wer sich nur rasch informieren will, ist hier im falschen Film.

Erwartungen werden subtil durchkreuzt

Diese Literatur-Ausstellung hat weder Anfang noch Ende. Man muss sich selbst Wege bahnen, muss sich diese Ausstellung regelrecht erwandern – und das auf kleinster Fläche, beinahe an Ort tretend, sich um die eigene Achse drehend.

Auf diese Weise eröffnen sich nach und nach Perspektiven und Räume, wo man vorher keine sah. Diverse Plakatwände, Vitrinen, Audio-Installationen, Videoscreens und Diaprojektionen transportieren nicht nur Inhalte. Sie führen ein diskretes Eigenleben. Erwartungen werden so subtil durchkreuzt.

Vielleicht greift man zunächst nach einer der präparierten Zeitungen, die in der Mitte des kleinen Saales bereit liegen und von aussen wie NZZ-Ausgaben aussehen. Sie enthalten Literaturkritiken und Essays der Kunstwissenschaftlerin, Publizistin, Sammlerin und Kuratorin Carola Giedion-Welcker (1893–1979). Es sind Streitschriften gegen den bourgeoisen Kunstbegriff, beherzte Plädoyers für avantgardistische Positionen.

Es war ein perfekter Skandal

Dreht man sich um, steht man vor einer Plakatwand, die grossformatig von Ubu Roi kündet, diesem Idol der Dadaisten und Surrealisten. Ubu Roi ist die groteske Hauptfigur des gleichnamigen Theaterstücks von Alfred Jarry. Ubu Roi ist ein Berserker, ein vulgärer, brutaler, fäkalfixierter Fettwanst, eine wandelnde Beleidigung des guten Geschmacks, zumal im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Bei der Uraufführung des Anti-Dramas 1896 brachen Tumulte los. Es war ein perfekter Skandal, eine Sternstunde in der Geschichte der avantgardistischen Bewegungen, die die Kunst aus ihrem institutionellen Korsett befreien wollten.

Beifall erwartete der exzentrische Alfred Jarry nie vom breiten Publikum, sondern nur von vereinzelten Eingeweihten. Nichts schlimmer als das Einverständnis der Allgemeinheit. Erklärung, Vermittlung, Deutung waren Gift für einen Jarry, waren Gift für die Avantgarde schlechthin. Adressatin der Avantgarde war ja nicht die jeweilige Gegenwart, sondern die unbekannte Zukunft.

Dem Publikum die neuesten Trends nahe gebracht

Speziell vor diesem Hintergrund ragt die Leistung von Carola Giedion-Welcker heraus. Sie führte ein offenes Haus in Zürich, das bald zum Knotenpunkt eines internationalen Künstler-Netzwerks wurde. Zugleich aber war Carola Giedion-Welcker eine begnadete Kunst-Vermittlerin.

Es gelang ihr, dem Zürcher Publikum neueste Trends nahezubringen, ohne dabei der Avantgardekunst den Stachel zu ziehen. Für die abstrakte Plastik und das abstrakte Bild fand sie eine analoge und adäquate Sprache, ihre Publikationen über Arp, Brancusi, Gaudí und Klee gelten bis heute als wegweisend.

Giedion-Welcker sammelte neben moderner Kunst auch Avantgarde-Literatur. Über die Jahre hinweg baute sie eine «Anthologie des Abseitigen» auf, die am Ende mehr als tausend Titel umfasste.

Melanie Kollbrunner und Philipp Ramer, Studierende der Literaturwissenschaft: «Das Schwierigste war der Sprung von der Textanalyse zur Ausstellungskonzeption.»

1990 erhielt das Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Zürich diese hochkarätige Sammlung als Geschenk. Werke von Louis Aragon, Hans Arp, André Breton, Alfred Jarry, Phillippe Soupault, Tristan Tzara und anderen gehören dazu.

Avantgardistische Haltungen erfahrbar gemacht

Zusammen mit Studierenden sichtete der Literaturwissenschaftler Hans Georg von Arburg im Rahmen eines Seminars diese noch wenig bekannte Sammlung, um Teile daraus öffentlich zu präsentieren. «Das Schwierigste war der Sprung von der Textanalyse zur Ausstellungskonzeption», sagt Studentin Melanie Kollbrunner. «Wir mussten Abstand gewinnen vom einmal erworbenen literaturhistorischen Wissen, um einen frischen Blick auf die Texte werfen zu können.»

Frisch wirkt die Ausstellung, die am Schluss von der erfahrenen Szenografin Cri Bertozzi realisiert wurde, allemal. Sie wartet nicht mit museal eingesargten Manuskripten hinter Glas auf, sondern macht avantgardistische Haltungen unmittelbar erfahrbar.

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