Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

China an der Frankfurter Buchmesse

Erste zarte Pflänzchen einer neuen Übersetzungskultur

Chinesische Autoren sind in deutscher Übersetzung kaum greifbar. Die Frankfurter Buchmesse 2009 mit China als Ehrengast hat gezeigt, dass nicht zuletzt die Regierung Abhilfe schaffen möchte. Davon sollen auch kritische Autoren profitieren. Ein Streifzug durch ausgewählte Neuerscheinungen von Andrea Riemenschnitter, Professorin für Moderne chinesische Sprache und Literatur.
Andrea Riemenschnitter
Literarische Begegnung an der Buchmesse 2009: Für einen Dialog der Lesekulturen.

Chinas berühmteste Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus den verschiedenen Generationen und Regionen waren nach Frankfurt an die Buchmesse gekommen. Die zahlreichen Interviews und Lesungen im Rahmen des Ehrengast- Programms waren bestens besucht.

Unter den vielen von der chinesischen Regierung unterstützten Übersetzungen fallen besonders die neuen Geschichtsromane von Li Er, Mo Yan und Yu Hua ins Auge. Alle drei Autoren schreiben über Episoden aus der Revolutionsgeschichte des 20. Jahrhunderts, könnten aber ansonsten unterschiedlicher gar nicht sein.

Traurige Geschichte eines Revolutionärs

Li Er hat die traurige Geschichte eines Revolutionärs der ersten Stunde, Qu Qiubai, im Charakter des Romanhelden Ge Ren fiktional aufgearbeitet – ein Name, der Programm ist und in kaum verschlüsselter, homophoner Lesung «Jedermann» bedeuten kann.

Der Roman spielt in der Zeit des antijapanischen Widerstandskrieges, als Nationalisten und Kommunisten sich wechselweise unterstützten und bekämpften, während regionale Warlords ihre eigenen Ziele verfolgten.

Kein Wunder, dass jeder der von einer entfernten Verwandten Ge Rens befragten Zeitzeugen eine andere Version der Vorfälle zu erzählen hat, welche schliesslich zum Tod des Helden führten.

Mit dem Eigensinn des Kleinbauern

Mo Yan nimmt sich der Zeit nach der Gründung der Volksrepublik China an. Wobei das Schicksal der Shandonger Bauern in der Region Gaomi zum Spiegel der Verhältnisse im ganzen Land wird.

Der beharrlich über den gesamten Prozess der Landreform auf seinem Recht selbständigen Bauerntums bestehende Protagonist Blaugesicht Lan Lian hat den Eigensinn eines Kleinbauern im Dorf.

Mit grotesken Szenarien einer zunehmenden Verdinglichung von Mensch und Landschaft erhebt Mo Yan, überaus wort- und bildreich Einspruch gegen eine gewaltsame Modernisierung, mit welcher Seele, Geist und Körper der Menschen immer weniger Schritt halten können.

Der etwas irreführende, weil allzu leichtgewichtige Titel der deutschen Übersetzung sollte niemanden von der Lektüre dieses beeindruckenden Werks abhalten.

Im Modernisierungsdelirium

Yu Hua schliesslich interessiert sich für das anhaltende Modernisierungsdelirium einer Kleinstadt-Gemeinschaft, welche sich zunächst von der maoistischen Revolution, dann aber vom Geld des Kapitalismus entmenschlichen liess.

Wurden unter Maos gnadenloser Denunziationspolitik unbescholtene Menschen über Nacht zu Klassenfeinden gemacht und brutal ermordet, so brachte die mit dem Kapitalismus eingezogene, masslose Gier nach Reichtum und Macht den Grossteil der Bevölkerung dazu, die eigene Seele zu verkaufen.

Exil-Autoren wie Gao Xingjian oder Yang Lian betonten demgegenüber die Möglichkeit einer Rettung der Seele mittels Rückzug ins einsame, asketische Reich der reinen Sprache, wo gesellschaftliche Phänomene nur einen kleinen Bestandteil der repräsentierten Erfahrungen des Autors ausmachen, welcher seinerseits nicht mehr als genialer Schöpfer von Kunstwerken, sondern vielmehr als sensibles, hellhöriges Medium literarischer Kommunikation jenseits nationaler Kulturpolitik gesehen werden will.

Nicht im Rampenlicht: die chinesischen Autorinnen

Weniger, wenn nicht zu wenig, Sichtbarkeit erzielten die chinesischen Autorinnen, was daran liegen mag, dass die ganz grossen Namen weitgehend fehlten: eine Wang Anyi, Zhai Yongming, Hong Ying, Li Ang, Shih Shu-ch'ing, Zhu Tianwen, Lilian Lee oder Xi Xi suchte man vergeblich.

Nicht zuletzt die Auswahl der an der Messe vertretenen Werke mochte zur Verkennung der tatsächlich heissen Debatte um die kulturelle Konstruktion von moderner Weiblichkeit in einem transnationalen, sinophonen Raum beitragen.

Während die im Jahr 1995 vereinsamt in Los Angeles verstorbene Eileen Chang bereits in den 1930er und 40er Jahren die damals in Shanghai beliebten Comedies of Remarriage aus Hollywood meisterhaft in die emotionale Verfasstheit der chinesischen Clan-Strukturen übertragen hatte, war der Akzent auf der Buchmesse auf ein erst kürzlich durch den taiwanischen Kultregisseur Ang Lee wieder aus der Versenkung hervorgeholtes Bürgerkriegsdrama und einen kritischen Revolutionsroman der späteren Exil-Autorin gelegt worden.

Zahlreiche Veranstaltungen mit chinesischen Themen beschäftigten sich mit Chinas Verhältnis zur Vergangenheit. So auch ein für das deutschsprachige Publikum aufbereiteter Dokumentarfilm über den brutalen Mord an der Lehrerin eines Beijinger Elitegymnasiums zu Beginn der Kulturrevolution, am 5. August 1966. In mutiger Pionierarbeit wurde die kollektive Verdrängung (trans-)nationaler Traumata thematisiert, wobei die Erinnerungsarbeit letzter Zeitzeugen im Vordergrund stand.

Chinesische Experimentierkultur

Als vorläufiges Fazit der noch lange nicht abgeschlossenen Grande Tour chinesischsprachiger Autoren durch das deutschsprachige Europa im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2009 lässt sich vielleicht folgendes festhalten: Trotz der bereits im Vorfeld entstandenen Irritationen wurden die Bedingungen einer tiefer reichenden interkulturellen Begegnung geschaffen.

Dazu haben nicht nur die zahlreich erschienenen, souverän argumentierenden Autoren beigetragen, sondern auch das chinesische Regime, welches beträchtliche Risiken im innen- und aussenpolitischen Feld in Kauf genommen hat, indem es sich selbst mit durchaus unbequemen Autoren vorstellte und darüber hinaus die gleichzeitige Präsenz von ganz anderen Stimmen stillschweigend akzeptierte.

Man kann diese Haltung gut in das allgemeine Klima einer zwar nach aussen bescheiden auftretenden, jedoch umso mutigeren Experimentierkultur einordnen, die derzeit in China den Weg zu politischen Reformen ebnen helfen soll.

Zugeknöpfte Deutsche

Demgegenüber zeigte sich die offizielle deutsche Seite viel weniger gesprächsoffen. Immer wieder wurde moniert, dass chinesische Stimmen in der Presse viel zu wenig Gewicht erhielten.

Das Festhalten westlicher Regierungen an einer ritualisierten Diskursordnung mag politischer Korrektheit geschuldet sein, es erscheint jedoch je länger je weniger geeignet, der Komplexität der realen Verhältnisse Rechnung zu tragen.

Der Dialog der Lesekulturen eröffnet hingegen andere Wege. Die Frage ist, ob deutschsprachige Leser sich dieser enormen Herausforderung der Globalisierung mit dem nötigen Engagement stellen werden – jetzt, wo die ersten zarten Pflänzchen einer von beiden Seiten öffentlich geförderten Übersetzungskultur so verheissungsvoll spriessen.