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Die schriftlichen Quellen sind eindeutig. Die Hochweiden im Unterengadin im heutigen Grenzgebiet zu Österreich waren bereits im Frühmittelalter des 11. und 12. Jahrhunderts bestossen. Vom Talboden aus machten sich Hirten mit ihren Kuh- und Rinderherden auf, um die Sommer auf bis zu 2600 Meter Höhe zu verbringen.
Aufgrund botanischer Funde wussten Archäologen und Frühgeschichtler jedoch, dass die Hochalpen bereits viel früher bewirtschaftet waren. Allenfalls schon im 4. Jahrtausend vor Christus. Nur, einen klaren archäologischen Beweis gab es für das Gebiet der Schweiz bisher nicht.
Thomas Reitmaier, promovierter Ur- und Frühgeschichtler an der Universität Zürich, wollte es genauer wissen. Seit 2007 ist er jeden Sommer in den Hochtälern des Silvrettagebirges anzutreffen. Mit ihm zusammen ein Dutzend Studierende. Ausgangspunkt ihrer Erkundungen in diesem Jahr war die Frage, ob die bronze- und eisenzeitlichen Siedler von Ramosch bereits vor mehr als 2500 Jahren ihr Vieh auf die Hochweiden im Fimbertal (Val Fenga) getrieben haben.
Ihr Hauptaugenmerk galt dabei archäologischen Hinweisen auf Gebäude- und Pferchreste, Feuerstellen oder Felsformationen, die als Unterstände gedient haben könnten. Dort kommen Metalldetektor, Spaten, Kellen, Pinsel und Pinzetten zum Einsatz.
Funde von mobilen Steinzeitjägern
Den ganzen Juli hindurch machten sich Reitmaier und sein Team auf die Suche nach neuen Fundstellen. Wie ein Wanderzirkus zogen sie umher und kartographierten das Gelände.
An besonders vielversprechenden Orten, geschützten Felsvorhängen, auffällig angeordneten Steinhaufen oder Bodenerhebungen machten sie Probegrabungen auf einer Fläche von einem halben Quadratmeter. Ans Tageslicht kamen Reste von Feuersteinen, abgebrochene Klingen oder Tierknochen. Die ältesten Funde dürften bis zu 10'000 Jahre alt sein und von mobilen Steinzeitjägern stammen.
Bereits im Sommer 2008 konnte eine urgeschichtliche Alphütte lokalisiert werden. Das Alter dieser einzigartigen Entdeckung datiert Reitmaier auf 2500 Jahre.
Zusammen mit all den anderen Funden war dies der erhoffte Beweis: Die Alpwirtschaft auf dem Gebiet der heutigen Schweiz ist älter als die schriftlichen Quellen vermuten lassen. Ähnliche Entdeckungen machte man bereits früher etwa in den französischen Alpen und spanischen Pyrenäen.
Lokale Verankerung der Arbeit wichtig
Reitmaier hat eine besondere Arbeitsphilosophie. Er gräbt nur soweit, wie es für seine Fragestellung notwendig ist. «Jede Grabung zerstört den Grabungsort. In ein paar Jahren gibt es vielleicht neue technische Methoden oder neue Fragestellungen und dann ist es sehr schade, wenn nichts mehr im Boden ist.»
Ebenfalls ein wichtiges Anliegen ist die lokale Verankerung der wissenschaftlichen Arbeit. Die Gemeinden sollen wissen, was die Zürcher auf ihren Alpen treiben. Allenfalls lässt sich daraus auch touristisches Kapital schlagen. Etwa ein Besucherzentrum oder begleitete Wanderungen. Es muss ja nicht immer eine 5000 Jahre alte Gletscherleiche sein, welche die Leute für die Frühzeit begeistern kann.
Funde für die Schweiz einmalig
Für Reitmaier ist aber nicht so sehr die Entdeckung der «ältesten Alphütte der Schweiz» ein Erfolg, sondern allgemein die Quantität, die Dichte und die Qualität der Funde. «Wir haben Gegenstände gefunden, die wahrscheinlich einen Zeitraum von 10'000 Jahren abdecken. Das ergibt für das Silvrettagebiet ein völlig neues Geschichtsbild.»
Die geborgenen Einzelfunde und Proben werden zur Zeit akribisch untersucht. Gelingt der Nachweis, wie alt die Funde sind und woher die Ausgangsmaterialien – etwa für die Feuersteine – stammen, lassen sich daraus neue Hypothesen über die Besiedelung und die Bewirtschaftung der Alpen gewinnen.
Die Grabungen werden im nächsten Sommer fortgesetzt. Mit einer Publikation soll das Projekt 2012 abgeschlossen werden. Vielleicht werden dann bereits die ersten Besucher aus dem Unterland eingetroffen sein und sich vor Ort informieren, wie die urzeitlichen Hirten ihr Vieh auf die Alp Fenga getrieben haben.