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Die Sixties - so verrottet, so modern

Die 60er-Jahre gelten als Epoche des Aufbruchs, auch in der Schweizer Literatur. Im Gespräch mit den Schriftstellern Peter Bichsel und Jörg Steiner lotete Peter von Matt aus, was das Modernitätsgefühl des Jahrzehnts ausmachte.
David Werner

Auftakt einer gemeinsam vom Deutschen Seminar und dem Zürcher Literaturhaus geplanten Ringveranstaltung: Jörg Steiner, Peter von Matt und Peter Bichsel (v.l.n.r.) im Gespräch.

Nonkonformismus–  für die junge Literaturszene der 60er-Jahre war das ein Zauberwort. «Ihr seid absichtlich angeeckt», sagte Peter von Matt, «ihr habt genau gewusst, dass ihr nicht wie kleine Gotthelfs schreiben wollt. Ihr seid scharf reingefahren und habt klare Fakten gesetzt.»

«Esgibt keine Zeitzeugen»

Das Podiumsgespräch mit Peter von Matt, Peter Bichsel und Jörg Steiner war der Auftakt einer gemeinsam vom Deutschen Seminar und dem Zürcher Literaturhaus in diesem Semester organisierten Ringveranstaltung über das literarische Leben der Schweiz in den 60er-Jahren. Als «Zeitzeugen» waren Bichsel und Steiner geladen – Bichsel aber zeigte sich aufsässig, was diese Zuschreibung anbelangte: «Zeitzeuge» sei eines der «dümmsten Wörter», die erkenne: «Es gibt keine Zeitzeugen! Wir wussten ja damals gar nicht, was die 60er-Jahre einmal bedeuten sollten, wir wussten zum Glück nicht, dass wir damals in modernen Zeiten lebten. Unsere Zeit kam uns verrottet und alt vor.»

Soviel Aufbruch war nie

Rückblickend gesehen aber herrschte viel Anfang und viel Aufbruch in der Schweizer Literatur der 60er-Jahre: Beeindruckend ist die Liste der damaligen Newcomer: Neben Peter Bichsel und Jörg Steiner betraten in den Sechzigern Otto F. Walter, Paul Nizon, Jürg Federspiel, Fritz Dinkelmann, Hugo Loetscher, Gerhard Meier, Adolf Muschg, Walter Vogt, Klaus Merz, Urs Widmer das literarische Parkett.

Peter Bichsel stellte die These auf, damals sei erstmals ein wirkliches Bewusstsein einer «Schweizer Literatur» entstanden. Früher habe man Schweizer Autoren als Einzel- und Ausnahmeerscheinungen empfunden, nun auf einmal habe sich ein Gruppengefühl entwickelt. Wie kam es dazu? Was verband die damals junge Schriftstellergeneration? Jörg Steiner erklärt es so: «Wir waren alle auf der Suche nach neuen Standpunkten, das waren schwierige Gleichgewichtsübungen. Dafür brauchte man Verbündete.»

MaxFrisch bestellt Whiskey

Entscheidend für das Gemeinschaftsgefühl waren auch die gemeinsamen literarischen Vorbilder. Jeder wusste, was man unbedingt gelesen haben musste: Alain Robbe Grillet, Nathalie Sarrault, Helmut Heissenbüttel. Allen voran natürlich William Faulkner. Überhaupt wurden die USA, und insbesondere New York, zur Chiffre des Aufbruchs – besonders für linke Schriftsteller. Die Amerika-Kenntnisse von Max Frisch faszinierten die jüngeren Autoren, die ihn in New York besuchten. «Mich beeindruckte nur schon die Art, wie Max Frisch einen Whiskey Sour bestellen konnte», erinnert sich Jörg Steiner.

Der weltläufige Max Frisch, gerade weil er mit diesem Amerika so vertraut war, eröffnete seinen jüngeren Kollegen neue Möglichkeiten des Schreibens über das Enge, Vertraute, Provinzielle. «Max Frisch war es, der unserer Generation das Thema vorgab: die Schweiz.» Über das Lokale schreiben zu dürfen – das sei grosser ein Befreiungsschlag gewesen, sagt Bichsel: «In der Generation unserer Väter war es ausgemacht, dass man nur ein interessanter Schriftsteller war, wenn man eine spektakuläre Biografie vorzuweisen hatte, wenn man wie Hemingwayviel von der Welt gesehen hatte – sei es als Jugendherbergsleiter in Grönland, als Eisverkäufer in Argentinien oder Holzfäller in Kanada.» Nun war auf einmal das Naheliegende literaturfähig geworden.

Amerika im Hinterkopf

Wie aber über das Spiessige und Miefige auf nicht-spiessige und nicht-miefige Artschreiben? Dazu brauchte es Abstand. Diese Möglichkeit des distanzierten Blicks – so Peter von Matts These – lieferte Amerika, lieferten der Jazz, die Clubs,die Megalopolis New York. «Ihr hättet», konstatiert von Matt an Steiner undBichsel gewandt, «nicht so über Biel und Solothurn geschrieben, wenn ihr nicht von einem Amerika aus hättet schreiben können, das Modernität und Weite atmete.» So imaginär dieses Amerika auch immer gewesen sein mochte.

Eineharmlose Zeit

Am Schluss des Abends kam die Rede noch auf die Politik: Die Politisierung der Literatur, darin stimmten die Gesprächsteilnehmer überein, sei für das Selbstverständnis der jungen Schriftsteller wichtig gewesen. Wer als Autor politisch war, galt allein schon deshalb als aufregend nonkonformistisch und anstössig. Ob die damals junge Autorengeneration nicht viel vom späteren politischen Aktionismus der 68er-Zeit vorweggenommen habe, wollte von Matt wissen. Bichsel relativierte – und gebärdete sich dezidiert unheroisch: «Wir waren harmlos, weil es eine harmlose Zeit war. Wir fühlten uns verfolgt, aber insgesamt bildeten wir eine zaghafte Bewegung, die sehr stark ästhetisch geprägt war.»

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