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Gerichtsurteile zu organisierter Kriminalität

Vor allem kleine Fische im Netz

Seit 1994 können in der Schweiz Personen für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation verurteilt werden. Veio Zanolini, freier Mitarbeiter am Kriminologischen Institut der Universität Zürich, hat dazu Gerichtsurteile untersucht und kommt zum Schluss: Teilnahme an einer kriminellen Organisation wird in der Regel unterstellt, ohne wirklich triftige Beweise dafür anführen zu können.
Marita Fuchs

Veio Zanolini hat die kantonalen Gerichtsurteile zur Teilnahme an einer kriminellen Organisation untersucht.

Angesichts wachsender terroristischer Bedrohungen und der Zunahme der organisierten Kriminalität stellten die USA und zahlreiche europäische Länder die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation unter Strafe. Die Schweiz nahm eine entsprechende Strafbestimmung 1994 auf, und zwar im Rahmen eines «Massnahmenpakets» in den Artikel 260ter des Strafgesetzbuches (StGB). Damit sollte die öffentliche Sicherheit besser geschützt werden. Strafbar ist bereits die Teilnahme an einer gefährlichen Organisation mit krimineller Zwecksetzung, nicht erst die Begehung von Delikten. Daraus ergibt sich jedoch ein rechtliches Problem: In diesen Fällen liegt die Straftat nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft.

Missbrauchsgefahr

Ist die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation per se strafbar, muss keine Mitwirkung bei irgendeiner konkreten Straftat nachgewiesen werden. Dadurch soll die Strafverfolgung wirksamer werden, vorausgesetzt, es liegen die entsprechenden Beweise vor. «Die Auslegung der offenen Rechtsbegriffe des Artikels 260ter kann in der Praxis dazu führen, dass auf blossen Verdacht hin verurteilt wird und das widerspricht sowohl den Vorstellungen des Gesetzgebers als auch dem Rechtsstaat», umreisst Veio Zanolini, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kriminologischen Institut der Universität Zürich, das Problem.

In der Strafverfolgung stecke ein Missbrauchspotenzial. «Personen werden oft der Beteiligung an oder Unterstützung einer kriminellen Organisation verdächtigt und beschuldigt, nicht weil die Existenz einer im Hintergrund handelnden kriminellen Organisation ernsthaft vermutet wird, sondern weil es damit im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen und der Strafuntersuchung leichter ist, geheime Informationen zu beschaffen», so Zanolini.

Falsche Täter im Visier

In seinen Untersuchungen zu den Verurteilungen aufgrund des Artikels 260ter kommt Zanolini zum Schluss, dass der Schuldspruch meistens nicht begründet ist. Das Gesetz verstehe unter kriminellen Organisationen Personenzusammenschlüsse, die in Annäherung an die Funktionsweise internationaler Unternehmen hochgradig arbeitsteilig, hierarchisch aufgebaut, stark abgeschottet, planmässig und auf Dauer angelegt sind. Durch Gewalt oder verbrecherische Bereicherungsmittel versuchen sie Geld und Macht anzustreben, um auf Politik und Wirtschaft Einfluss zu nehmen. Von einer Organisation wird dabei grundsätzlich ab drei Mitgliedern gesprochen.

Schlagkraft nicht bewiesen

In der Gerichtspraxis werde die ins Auge gefasste Zielgruppe mit Artikel 260ter nicht erfasst, meint Zanolini. Prozessiert wurde in erster Linie gegen Basiskriminelle oder allenfalls Bandenmitglieder, die auch mit den klassischen strafrechtlichen Mitteln hätten verfolgt werden können. Kein einziges Verfahren wurde allein aufgrund von Artikel 260ter eröffnet. Die Fallzahlen sind entgegen dem offiziellen Diskurs zum Bedrohungsszenario in der Schweiz sehr tief: Im von Zanolini betrachteten Zeitraum 1994 bis 2004 gab es lediglich 17 Verurteilungen vor Schweizer Gerichten. Elf davon konnte er in seiner Arbeit genauer untersuchen. Die übrigen konnten die Behörden in den jeweiligen Archiven nicht mehr ausfindig machen.

Verurteilung auf den blossen Verdacht hin

Die Verurteilten sind in der Regel Männer um die 50 Jahre, mit niedrigem Sozialstatus, ohne Ausbildung und Ausländer. Entweder sind sie in der Schweiz wohnhaft oder kommen illegal hierher, um illegale Geschäfte zu betreiben – so genannte «Kriminaltouristen». So wurden in einem Fall drei Kolumbianer verurteilt, die im Besitz mehrerer Kilogramm Kokain waren. Die Täter verbrauchten nicht nur Kokain, sondern verarbeiteten es zu einer flüssigen Substanz, brachten diese in den Handel und überwiesen das erwirtschaftete Geld auf kolumbianische Bankkonten. Bei Gericht wurde kein Nachweis erbracht, dass die Kolumbianer zu einer kriminellen Organisation gehörten, trotzdem wurden sie nicht nur für den Drogenhandel, sondern auch für die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Organisation gemäss Artikel 260ter verurteilt, was zu einer entsprechenden Straferhöhung führte.

Betrügerische Einkäufe von Zugbilletten

In einem anderen Fall ging es um betrügerische Einkäufe von Zugfahrkarten. Ein Staatenloser und eine Polin wurden nach Artikel 260ter verurteilt. Sie hatten mehrere Monate lang mit gestohlenen Kreditkarten Fahrkarten eingekauft, die sie anschliessend an einem anderen Schalter wieder gegen Geld eintauschten. Insgesamt waren sieben Personen an der Aktion beteiligt, die Deliktsumme betrug 160‘000 CHF. Gemäss Ausführungen des Untersuchungsrichters hätte der Täter die Mittäterin rekrutiert und die anderen Personen zur Ausführung seiner Pläne bestimmt. «Der Schuldspruch der Beteiligung an einer kriminellen Organisation ist kaum nachvollziehbar», meint Zanolini. «Die Verurteilten entsprechen nicht den gesetzgeberischen Vorstellungen von organisierter Kriminalität, sondern eher die von Kleinkriminellen, die bandenmässig Delikte verüben.»

Die Schweiz ist kein Sultanat der Mafia

Zanolini relativiert deshalb aus der Perspektive seiner Aktenanalyse auch eine schwer wiegende Bedrohung der Schweiz durch eine neue, besonders strukturierte Kriminalitätsform, die der italienischen Mafia entsprechen würde. Sicherlich seien auch in der Schweiz illegale Märkte vorhanden, jedoch seien die kriminellen Gruppierungen nicht so gut organisiert und bei weiten nicht so mächtig, wie oft vermutet und von den Behörden und den Medien suggeriert werde.