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Erzählen ist ein Königsweg zur Mitteilung persönlichen Erlebens. Der Erzähler stellt sich seinem Gegenüber als individuelle Person mit eigener Geschichte dar und macht sich dadurch für seine Umwelt erfahrbar. Die Erfahrungsschätze, die im Erzählen verborgen liegen, sind mannigfaltig und reich. Die Tagung für klinische Erzählforschung / klinische Erzählpraxis vom 24./25. Oktober, welche unter der Leitung von Professorin Brigitte Boothe von der Abteilung Klinische Psychologie, Psychotherapie und Psychoanalyse der Universität Zürich durchgeführt wurde, ermöglichte einen Einblick.
Die Tagung brachte weit über hundert Forschende und Praktiker aus diversen Bereichen der Erzählforschung und Erzählpraxis zusammen. Namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, praktisch tätige Psychologen und Psychotherapeuten und Studierende versammelten sich, um Neues über das Erzählen zu erfahren, über Erzählungen zu reflektieren und selbst zu erzählen. Gelegenheit dazu bot sich in Hauptvorträgen vor dem Plenum, in angeregten Podiumsdiskussionen, in parallel stattfindenden Vortragspanels mit kleineren Zuhörergruppen, in interaktiven Werkstätten oder bei Posterpräsentationen. Die Vielfalt der Beiträge und der methodischen Zugangswege lässt sich an dieser Stelle lediglich anhand einiger Beispiele andeuten.
Von der heilenden Wirkung des Erzählens sprach Professorin Gabriele Lucius-Hoene. Erzählen ist gemäss dieser Autorin nie Abbild des Ursprünglichen, sondern immer eine Verschiebung durch das Erzählen selbst, welche Bewältigungsmöglichkeiten bereithält. Frau Lucius-Hoene diskutierte gelungene und nicht gelungene Bewältigung anhand von Beispielerzählungen traumatischer Erlebnisse, wie die Erfahrung der Totgeburt eines Kindes, welche grosse emotionale Anteilnahme im Publikum auslöste und dadurch die Erzählung als emotionales interaktives Geschehen für alle direkt erfahrbar machte.
Wie die persönliche Verarbeitung einer spezifischen Erfahrung im Narrativ zum Ausdruck kommen kann, zeigte Dr. Marius Neukom anhand von Erzählungen von Lungentransplantations-Patienten. Diese Patienten sind grossen Belastungen ausgesetzt, es wird von ihnen eine immense psychische Integrationsleistung gefordert. Die Analyse ihrer Narrative lässt differenzierte Rückschlüsse zu, inwiefern eine psychische Integrationsleistung bzw. eine Verarbeitung der Transplantation beim Patienten stattgefunden hat.
Der Gedächtnisforscher Prof. Hans Markowitsch wies auf eine misslungene Erfahrungsverarbeitung hin, die sich schliesslich in einem gestörten Lebensnarrativ zeigt. Gemeint sind stressbedingte Erinnerungsblockaden. Der Hintergrund solcher Amnesien sind traumatische Erfahrungen, die in der Folge zu Erinnerungsblockaden führen und ganze Lebenszeiträume umfassen. Die Erinnerungsblockaden stören das Narrativ, welches hier das gesamte Leben einschliesst. Durch psychotherapeutisches Eingreifen – durch den Zugang über das Erzählen – kann Erinnern manchmal wieder möglich werden.
Professorin Brigitte Boothe sprach in ihrem Referat über das Erzählen in der Psychotherapie und stellte dabei typisch auftretende Erzählmuster vor. Das Erzählen wird als besonders bedeutsame und aufschlussreiche Form der individuellen Selbstmitteilung verstanden. Im Erzählen kommt subjektives Leiden zum Ausdruck. Dieses verweist auf das Ureigenste im Patienten beziehungsweise in der Patientin, was sich wiederum für Diagnose, Behandlung und Beziehungsgestaltung nutzen lässt.
Auf die Subjektivität als wesentliches Charakteristikum einer Erzählung, das einen klinischen Zugang erst rechtfertigt, wies auch Professorin Elisabeth Gülich hin. Sie zeigte in ihrem Beitrag aus der linguistischen Gesprächsforschung anhand von Erzählungen von Epilepsie-Patienten mit Angststörungen, dass es sich bei der narrativen Rekonstruktion von Erfahrungen nie um eine reine Wiedergabe von Fakten handelt, sondern dass immer Bewertungen und Interpretationen miteinfliessen. Sie betonte zudem den interaktiven Aspekt des Erzählens. Die Erzählung wird als interaktives Produkt verstanden, das von den Gesprächspartnern gemeinsam hergestellt wird.
Die interaktive Leistung des Erzählens wird auch von Professor Arnulf Deppermann hervorgehoben. Im therapeutischen Kontext basiere das Zutun des Zuhörers an der narrativen Interaktion darauf, Fragen zu stellen, die als therapeutische Intervention die Selbstexploration und Autonomie des Patienten anregen sollen.
Demgegenüber vertrat der Sozialpsychologe Dr. Wolfgang Kraus einen individualistischen Zugang zu Narrativen. Er stellte in seinem Beitrag dar, wie durch Narrative Identität konstruiert wird. Erzählungen bieten die Möglichkeit, sich gegenüber anderen als zugehörig oder fremd zu positionieren und sich damit eine individuelle Identität zu schaffen.
Der Psychoanalytiker Prof. Hermann Staats stellte in seinem Referat Methoden vor, anhand welcher sich klinisch Relevantes in Erzählungen eruieren lässt. Sein Untersuchungsfokus liegt dabei auf zentralen Beziehungskonflikten. Erzählungen sind für die therapeutische Praxis eine wertvolle diagnostische Informationsquelle.
Der kurze Überblick über einige Referatsthemen verdeutlicht die vielfältigen Zugangswege zur Erzählforschung: Im Erzählen wird Leiden dargestellt, werden Erfahrungen gestaltet, interpretiert und verarbeitet, es wird interaktiv ein Produkt geschaffen, individuell über Identität verhandelt und therapeutischer Zugang ermöglicht. Einen umfassenden Einblick in die Tagungsbeiträge wird der Sonderband der Zeitschrift «Psychoanalyse» bieten, der im Frühjahr 2009 veröffentlicht wird.