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Die ersten Europäer

Hominidenfunde in Georgien liefern erstaunliche Einblicke in das Leben unserer Vorfahren. Forschende am Anthropologischen Institut der Universität Zürich haben daraus Rückschlüsse gezogen auf die Evolution des aufrechten Ganges und der Gehirngrösse.
Christoph Zollikofer, Marcia Ponce de León und Tea Jashashvili 

«Wundertüte der Paläoanthropologie»: Die ergiebige Fundstelle Dmanisi in Georgien.

Die Fundstelle Dmanisi im Süden Georgiens ist eine Wundertüte der Paläoanthropologie. Auf der Fläche eines mittleren Pflanzgärtchens sind bis jetzt mehr menschliche Fossilien gefunden worden, als je zuvor auf einer einzigen Fundstelle.

Das ist umso bemerkenswerter, als die Sedimente in Dmanisi 1,77 Millionen Jahre alt sind. Sie stammen aus der Übergangszeit vom Pliozän zum Pleistozän. Bis jetzt stützten sich unsere Kenntnisse über die Dmanisi-Menschen, ihr Verhalten und ihre Umwelt auf mehrere fossile Schädel und Kiefer unterschiedlichster Form und Grösse, Steinwerkzeuge, Tierknochen und pflanzliche Überreste.

Mit Fleisch durch den Winter

Wir können daraus schliessen, dass die ersten Europäer geschickte Werkzeugmacher waren, die offensichtlich wussten, wie man sich Zugang zu Fleisch und Knochenmark von Grosswildkadavern verschaffen kann. Das war besonders während der kühlen Wintermonate wichtig, während derer pflanzliche Nahrung nur in beschränkten Mengen zur Verfügung stand.

Das Gehirn der Dmanisi-Hominiden war erstaunlich klein: zwischen 600 und 800 ccm, im Vergleich zum modernen Menschen mit 1200 bis 1800 ccm. Ein kleines Gehirn sagt aber noch nicht alles über einen fossilen Menschen aus.

Die Sedimente in Dmanisi sind 1,77 Millionen Jahre alt und stammen aus der Übergangszeit vom Pliozän zum Pleistozän.

Offene Fragen

Die biologisch relevanten Fragen sind: Wie gross war das Gehirn der Dmanisi-Hominiden relativ zu ihrer Körpergrösse? Inwiefern war ihr zweibeiniger Gang mit demjenigen des modernen Menschen vergleichbar? Und wie waren ihre Arme und Hände beschaffen, mit denen sie Werkzeuge herstellten und Tierkadaver zerlegten?

Diese Fragen beschäftigen die Paläoanthropologie schon lange. Paradoxerweise wusste man bis jetzt beim Homo erectus fast nichts über das so genannte postkraniale Skelett, also das Skelett «hinter» dem Schädel. Dies ist eine unbefriedigende Situation für eine Hominidenart, deren Vertreter aufrecht gingen und Werkzeuge herstellten.

Gesamtbild in Sicht

Jetzt aber zeichnen sich Antworten ab. Im Laufe der letzten Jahre sind endlich auch Teile des Rumpfskeletts und der Gliedmassen der Dmanisi-Hominiden gefunden worden. Viele dieser Knochen sehen wir überhaupt zum ersten Mal bei fossilen Hominiden.

Aufgrund der genauen räumlichen Dokumentation der einzelnen Funde im Sediment und aufgrund von individuellen anatomischen Merkmalen können die neuen Knochen den früher gefundenen Schädeln zugeordnet werden. Erstmals lässt sich nun aus diesem Puzzle ein Gesamtbild des Skelettes der plio-pleistozänen Hominiden rekonstruieren.

Im Laufe der letzten Jahre sind auch Teile des Rumpfskeletts und der Gliedmassen der Dmanisi-Hominiden gefunden worden.

Ähnliche Proportionen

Einer der erstaunlichsten Befunde ist, dass die Dmanisi-Hominiden im Wesentlichen bereits die selben Körperproportionen hatten wie wir modernen Menschen: Die Beine sind bedeutend länger als die Arme und die Oberschenkel länger als die Oberarme. Zudem hat die Wirbelsäule die Form eines «S» und das Fussgewölbe ist gut ausgebildet. Alle diese Merkmale sind ein untrügliches Zeichen für den federnden zweibeinigen Gang, der es erlaubt, weite Strecken gehend, laufend oder rennend zurückzulegen.

Während sich die Dmanisi-Hominiden also bereits wie moderne Menschen fortbewegten, verlief die Evolution bei anderen Körperteilen unterschiedlich. Im Vergleich zur Körpergrösse war ihr Gehirn so klein wie das der allerersten Vertreter der Gattung Homo aus Afrika, auf jeden Fall kleiner als das des Homo erectus in Afrika und Asien.

Unterschiede bei den Schultern

Zudem waren die Schultern und Arme der Dmanisi-Menschen leicht anders gebaut. Beim modernen Menschen liegen in Ruhestellung die Schulterblätter am Rücken, während geichzeitig die Handflächen nach innen gedreht sind. Dies wird durch eine starke Torsion des Oberarmknochens gewährleistet. Damit kann die Aussendrehung des Schultergelenks durch eine Innendrehung des Ellbogengelenks kompensiert werden. Bei den Dmanisi-Hominiden hatten die Oberarmknochen keinerlei Torsion. Die Schulterblätter waren aber so gebaut, dass sie mehr Bewegungsfreiheit erlaubten.

Was bedeutet dies nun für die Evolution und die Funktion der oberen Extremitäten? Wahrscheinlich handelt es sich hier um einen «alten» evolutiven Merkmalskomplex, der eine Reminiszenz an frühere Hominidenarten darstellt.

Funktionell wissen wir derzeit nur, dass sich die Armbewegungen der Dmanisi-Hominiden vom modernen Menschen unterschieden. Trotzdem waren sie in der Lage, verschiedenste Steinwerkzeuge herzustellen und Grosswildknochen aufzubrechen, um ans Mark zu gelangen.

Gut angepasste Mischwesen

Aus heutiger Sicht erscheinen uns die Dmanisi-Hominiden als eigenartige Wesen, die moderne und altertümliche Merkmale in ein und demselben Körper vereinen. Aus der Perspektive der Dmanisi-Hominiden war das natürlich nicht der Fall. Sie waren Menschen, die an ihre Umgebung gut angepasst waren und über eine Sozialstruktur und kognitive Fähigkeiten verfügten, die auch das Überleben von alten und behinderten Gruppenmitgliedern ermöglichte.

Warum also hat die weitere Evolution des Menschen zu einem so grossen Hirn geführt, wenn man mit moderater Hirngrösse ganz gut zurechtkam und «moderne Beine» anscheinend wichtiger waren? Die Evolution kennt weder Ziel noch Zweck, so dass wir Trends erst aus der Perspektive der Nachgeborenen interpretieren können. Die Anforderungen der Umwelt an einen typischen Hominiden sind in den letzten 1,77 Millionen Jahren wohl kaum gewachsen. Vielleicht aber die Anforderungen innerhalb der Gruppe - da konnte ein grosses Gehirn sehr wohl von Nutzen sein.