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Das Recht und die Kultur

Ist die Rechtswissenschaft eine Kulturwissenschaft? Ein Kongress der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Zürich beantwortete diese Frage klar mit «Ja».
Adrian Ritter

Die Rechtswissenschaft sah sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder vor die Frage gestellt, wie sie sich innerhalb der Wissenschaften definiert. 

Rund 70 Fachpersonen aus Rechtswissenschaft, Philosophie und Theologie aus Europa und den USA haben Mitte Juni am Kongress «Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?» teilgenommen. Unipublic hat sich mit dem Präsidenten der Schweizerischen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie, Professor Marcel Senn vom Lehrstuhl für Rechtsgeschichte, Juristische Zeitgeschichte und Rechtsphilosophie an der Universität Zürich, darüber unterhalten.

unipublic: In welchem Verhältnis stehen «Recht» und «Kultur»?

Senn: Ich verstehe unter Kultur die bewusste Pflege dessen, was die Identität des Menschen ausmacht. Dies umfasst neben Aspekten wie etwa der Sprache und der Geschichte auch soziale Normen. Diese Normen sind eng verbunden mit dem «Recht». Beide stellen ein auf längere Zeit angelegtes «Verhaltensprogramm» dar. Der Unterschied besteht darin, dass soziale Normen mittels Argumenten ihre Geltung behaupten, während wir es beim Recht mit zuverlässig durchsetzbaren Normen zu tun haben.

Sind Recht und Kultur verwandt genug, um die Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft bezeichnen zu können?

Bei den Teilnehmenden unseres Kongresses herrschte Übereinstimmung, dass dies der Fall ist. Kulturwissenschaftliche Fächer wie etwa die Geschichte und Anthropologie beschäftigen sich mit solchen kulturellen Aspekten der menschlichen Identität. Die Rechtswissenschaft leistet dasselbe hinsichtlich der rechtlichen Normen.

Was bedeutet es konkret, wenn sich die Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft verstehen soll?

Es bedeutet, dass rechtsgeschichtliche und rechtsphilosophische Grundfragen nicht vergessen gehen dürfen: Warum ist das Recht, wie es ist? Wie ist es entstanden? Welches Ziel hat es? Die Rechtswissenschaft muss historisch-kritisch denken und ihre eigenen Theorieansätze immer wieder hinterfragen. Es geht somit darum, eine kritische Distanz zum eigenen Fach zu ermöglichen. Der Kongress hat auch dazu beigetragen, diesen lange vernachlässigten Diskurs wieder aufzunehmen.

Prof. Marcel Senn: «Rechtsgeschichtliche und rechtsphilosophische Grundfragen dürfen nicht vergessen gehen.Die Rechtswissenschaft muss historisch-kritisch denken und ihre eigenen Theorieansätze immer wieder hinterfragen.»

Der Bedarf der Rechtswissenschaft, sich innerhalb der Wissenschaften zu positionieren, ist somit nicht neu?

Nein, die Rechtswissenschaft sah sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder vor die Frage gestellt, wie sie sich innerhalb der Wissenschaften definiert. Im Mittelalter beispielsweise sah sich die Rechtswissenschaft der Theologie verbunden, in der frühen Neuzeit dem Menschenbild und der Ethik der Antike. Allgemein verstand sich das Recht bis zur Aufklärung als sinnstiftende Ordnung und die Rechtswissenschaft in diesem Sinne als Kulturwissenschaft.

Das änderte sich in der Folge?

Ja, teilweise bereits mit der Aufklärung. Das Recht begann sich immer stärker an den Fragestellungen und methodischen Standards der Naturwissenschaften zu orientieren. Mitte des 19. Jahrhunderts setzte sich dann das positivistische Rechtsverständnis durch. Im Vordergrund stand damit ein begrifflich orientiertes Recht, das als ein in sich geschlossenes System verstanden wurde. Die herkömmlichen ethischen Aspekte hatten darin keinen Platz mehr.

Gleichzeitig ergaben sich aber gefährliche Annäherungen an pseudowissenschaftliche Diskurse wie etwa den Sozialdarwinismus und die Rassentheorien. Dieses Weltbild reduzierte den Menschen auf ein genetisch determiniertes Wesen. Die Kriminalanthropologie, wie sie auch in Zürich um 1900 gelehrt wurde, ist ein Beispiel dafür. Sie betrachtete Täter als «geborene Verbrecher».

Muss sich die Rechtswissenschaft auch heute gegen Vereinnahmungen wehren?

Die Rechtswissenschaft ist auch heute zum Teil naturwissenschaftlich ausgerichtet. Dies hat Vorteile, beinhaltet aber auch Gefahren, so zum Beispiel wenn die DNA-Analyse einerseits Täter überführen hilft, aber auch zu Ungleichbehandlungen beispielsweise in der Krankenversicherung führen kann. Auch die aus den Naturwissenschaften stammende Systemtheorie hat einen grossen Einfluss auf unser Fach. Mit ihrem Denken in Systemen führt sie dazu, dass der einzelne Mensch sowie Aspekte wie Kultur und Ethik im Recht nicht mehr sichtbar sind.

Der Kongress versuchte hier Gegensteuer zu geben?

Innerhalb der Rechtswissenschaft wird zunehmend erkannt, dass die erwähnten Tendenzen zu einer verengenden Wahrnehmung der Grundlagen der Rechtswissenschaft führen. Bei unserem Kongress ging es darum, das Bewusstsein für solche Fragen zu wecken und in Erinnerung zu rufen, dass das Recht vom Menschen und für den Menschen gemacht ist. Es ist kein System, das aus sich selbst heraus entsteht, sondern es wird vom Menschen konstruiert und ist somit ein Teil seiner Kultur.

Sind weitere Aktivitäten geplant?

Im Mai 2008 wird in Zürich der nächste Kongress stattfinden. Er wird sich der Hermeneutik widmen. Es wird um die Frage gehen, wie der Mensch seine Welt sprachlich überhaupt entwirft und Texte – in unserem Fall insbesondere Gesetze - versteht.

Die Rechtswissenschaft kann auch in diesem Sinne als Kulturwissenschaft bezeichnet werden, weil sie mit Sprache zu tun hat. Normen treten uns in sprachlicher Form entgegen und entstehen in einem historischen Prozess. Denken Sie nur an Begriffe wie «Menschenrechte» oder «Verbrecher» und wie diese im Laufe der Zeit unterschiedlich verwendet wurden. Ein Verbrecher ist nicht einfach ein Verbrecher. In bestimmten historischen Abschnitten prägte der «geborene Verbrecher» die Diskussion, in anderen der «therapierbare Verbrecher».