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«Unser Vaterland hat heute ein schreckliches Unglück erlitten.» Mit diesen Worten beginnt die Berichterstattung der Zürcher Zeitung über die dramatischen Ereignisse, die sich am 2. September 1806 in der Innerschweiz zutrugen. Augenzeugen berichteten später: «Getöse, Krachen und Geprassel erfüllt wie tief brüllender Donner die Luft: Ganze Strecken losgerissenen Erdreichs – Felsenstücke, gross und noch grösser wie Häuser – ganze Reihen Tannenbäume werden aufrecht stehend und schwebend mit mehr als Pfeilesschnelle durch die verdickte Luft hingeschleudert. Umgeschaffen ist die zuvor paradiesische Gegend in hundert und hundert wilde Todeshügel.» 457 Opfer forderte der Bergsturz, über 300 Häuser und Stallungen wurden unter den Geröllmassen und der anschliessenden zehn Meter hohen Flutwelle begraben. Das Dorf Goldau hörte an jenem Tag mit einem Mal auf zu existieren. Es war die grösste Naturkatastrophe, die die historische Schweiz jemals erlebt hatte.
In wenigen Tagen jährt sie sich nun zum 200. Mal – Grund genug für das Medizinhistorische Museum der Universität Zürich, auf die verheerenden Ereignisse zurückzublicken. Die Ausstellung beleuchtet im Besonderen die Strategien zur Bewältigung der Katastrophe in der damaligen Epoche. Ein einfaches Nadelset, Verbandsmaterial und ein Schwamm zur Wundreinigung veranschaulichen die beschränkten Mittel der Medizin und Chirurgie. Mit der Dokumentation schauerlicher Einzelschicksale vergegenwärtigt Ausstellungsmacherin Margrit Wyder immer wieder die menschliche Dimension des Bergsturzes. Besonders dramatisch ist der Fall eines Goldauer Bergbauern, der seine hoch schwangere Frau nur noch tot bergen konnte. Mit dem Schermesser öffnete er alsdann den Bauch seiner Gattin und rettet das Kind – in den Augen der Zeitgenossen ein Beispiel für die «alt-eidgenössische Seelenstärke.»
Ebenso beeindruckend ist jedoch aus heutiger Sicht der mediengeschichtliche Aspekt: Der Zürcher Maler Johann Caspar Jahn schuf innert weniger Tage vier Ölgemälde der Unglücksgegend und liess diese in Kupfer stechen. Zwei Wochen nach der Katastrophe kamen sie auf den Markt. Und bereits eine Woche nach den Ereignissen kündigte die «Orell, Füssli und Co.» eine «historisch-malerische Beschreibung» der betroffenen Gebiete an. Die rege Berichterstattung löste in der ganzen damaligen Schweiz und selbst im Ausland grosse Bestürzung aus. Hilfsequipen wurden entsandt, Geldspenden für die Überlebenden gesammelt. Für die Schaulustigen errichtete man Aussichtsplattformen. Auch in den Künsten fand das Ereignis alsbald seinen Niederschlag. Goethe, der die Gegend von seinen Schweizer Reisen her gut kannte, fertigte mehrere Zeichnungen an. 1812 gelangte die Oper «Der Bergsturz» von Joseph Weigl zur Uraufführung.
Die melodramatischen Ereignisse in pittoresker Landschaft, das urplötzlich hereinbrechende Unglück über einen als paradiesisch verklärten Ort, die schiere Bildgewalt der kursierenden Illustrationen – all dies schlug die Leute in Bann. An vergleichbare Ereignisse aus der jüngsten Vergangenheit erinnern auch die bald einsetzenden Diskussionen um die Rolle der Behörden: Die Rettungsmassnahmen seien unzureichend, wurde kritisiert. Die Kirche wiederum suchte nach Antworten auf die Frage des Warum. Wurden Naturkatastrophen gemeinhin als göttliches Strafgericht gedeutet, so schien diese Erklärung für die frommen und fleissigen Schwyzer unzutreffend. Schliesslich wurden die Ereignisse in trostvoller Weise umgedeutet: Gott habe die Getöteten aus Liebe zu sich genommen, um ihnen künftiges Leid zu ersparen.
All dies und viele weitere Aspekte und Geschichten stellt die Ausstellung mit einer Fülle an historischen Objekten anschaulich dar. Die Palette reicht von Fundobjekten wie Schuhwerk und Essgeschirr aus dem Bergsturzgebiet über das Kondolenzschreiben des Kantons Zürich bis hin zur Aufstellung der gesammelten Hilfsgelder nach unterschiedlichen Währungen – gut zwei Dutzend waren dazumal im Umlauf. Viele der Dokumente brachte Kuratorin Margrit Wyder während ausgedehnter Recherchen in verschiedenen Archiven erstmals ans Licht. Sie geben ein umfassendes Bild der Lebenswirklichkeit und Geisteshaltungen in der Schweiz vor 200 Jahren und beleuchten die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche: Politik, Religion, Medien, Medizin, Erinnerungskultur, Geologie. Dass man sich dabei immer wieder an heutige Tragödien wie jene von Gondo erinnert fühlt, macht den Ausstellungsbesuch zu einem umso bewegenderen Erlebnis.