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Den Feinschmecker unter den Lemuren entdeckt

Lemuren sind Halbaffen, die nur auf Madagaskar heimisch sind. Nun hat der Anthropologe Urs Thalmann der Universität Zürich eine neue Art entdeckt und sie nach dem britischen Schauspieler und Lemurenfreund John Cleese benannt. Bis es soweit war, galt es manches Abenteuer zu bestehen – das definitive Happy End lässt noch auf sich warten.
Brigitte Blöchlinger

Gut getarnt und trotzdem vom Aussterben bedroht: der neu entdeckte Avahi cleesei.

Das allererste Mal hat Urs Thalmann den Avahi cleesei gar nicht selbst entdeckt. Sondern ein Student der Anthropologie, der mit dem Lemuren-Kenner nach Madagaskar gereist war. Er habe «etwas Eigenartiges» in den Bäumen gesehen, erzählte der Assistent eines Abends im Camp in der Wildnis draussen. Die Vermutung, es könnte sich aufgrund der Schilderung tatsächlich um eine «eigene Art» handeln, liess Urs Thalmann keine Ruhe, und so kehrte er ein Jahr später an denselben Ort zurück und hielt gezielt nach dem braungrauen Tier Ausschau. Das war 1991, politische Unruhen erschütterten die vor Afrika gelegene Insel. Die Verkehrswege waren noch unsicherer als sonst, doch die Crew – bestehend aus dem Einheimischen Monsieur Felix, dem madagassischen Biologen Nasolo Rakotoarison und den Zürcher Anthropologen Urs Thalmann und Thomas Mutschler – schaffte es unter grossen Strapazen, nach Tsingy de Bemaraha zu gelangen.

Bereiten sich für die nächtliche Suche nach den neu entdeckten Lemuren vor: der Anthropologe Urs Thalmann und sein madagassischer Assistent Monsieur Felix.

Gut getarnt im Unesco-Weltnaturdenkmal

Die 5000 Quadratkilometer grosse Region nördlich des Manambolo Rivers besteht zu weiten Teilen aus laubwerfendem tropischem Trockenwald und wurde von der Unesco zum Weltnaturdenkmal ernannt. Das Vorwärtskommen im dichten Unterholz ist mühsam. Nach Tagen des Herumpirschens in der Region bemerkte Thalmann, dass das Gesuchte näher lag, als vermutet: Die neue Lemurenart siedelte in den Bäumen bei seinem Lager. Gut getarnt durch das graubraune Fell, machten sich die wuscheligen Halbaffen Nacht für Nacht gerade über den Zelten der Forscher auf die Suche nach essbaren Baumblättern und ruhten tagsüber, wenn der Wissenschaftler mit seinen Helfern ausgeschwärmt war.

Die Avahi cleesei lebten gerade über dem Camp der Forschergruppe.

Nach zehn entbehrungsreichen Tagen gelang es dem Team, ein Exemplar einzufangen, genau zu beschreiben und mit einem Sender zu versehen. Die neue Art hat keine weisse Gesichtszeichnung wie die anderen Wollmakis, sondern eine dunkle Stirnlinie oberhalb der Augen. Das Fell ist wollig und leicht gelockt. Eigen ist die unauffällige Schwanzfarbe, die wie der Rest des Körperfells braungrau ist, mit einer leichten rötlichen Einfärbung auf der Unterseite. Völlig konträr dazu zeichnet sich der bekannteste unter den Lemuren, der Katta, durch seinen auffällig schwarz-weiss gestreiften Schwanz aus.

Lemuren gibt es in zahlreichen Ausprägungen: ein Ringelschwanz-Lemur (links) im Vergleich mit einem ausgestorbenen Riesen-Lemuren der Gattung Megaladapis.

Kleinfamilie mit wählerischem Geschmack

Urs Thalmann und seine Crew studierten das Verhalten der neuen Art. Und stellten fest, dass ihre Entdeckung ein Feinschmecker unter den Lemuren ist: Sie ernähren sich von seltenen, auserlesenen Blättern und Knospen, die für Menschen wie Salat schmeckten. Bittere Happen, wie andere Lemuren sie lieben, verschmäht der Avahi cleesei. Die Tiere scheinen stets den Überblick zu haben, wo gerade neue Blätter knospen. Anders als manche andere Lemuren ist der Cleesei auch nicht klar Weibchen-dominiert. Eindringlinge werden häufig vom Männchen vertrieben, und auch tagsüber scheint es über die Sicherheit der Kleinfamilie zu wachen. Um die Aufzucht des Nachwuchses kümmert es sich nicht direkt, dafür ist das Weibchen zuständig. Es trägt die Kleinen auf sich, bis diese mit den Eltern mithalten können. Ab und zu verschwindet der Familienvater kurz, konnte Thalmann beobachten, weshalb und wozu, wurde (bisher) noch nicht klar. Das Paar lebt in «monogamer Ehe», bekommt einen Nachkommen pro Jahr, der längstens zwei bis drei Jahre in der Kleinfamilie bleibt und sich dann zwecks eigener Familiengründung absetzt.

Die stark zunehmende Bevölkerung mit ihrer Slash-and-Burn-Landwirtschaft setzt dem Wald in Westmadagaskar ausserordentlich zu: typisches Dörfchen auf abgeholzter und abgebrannter Lichtung am Rand eines laubwerfenden Tropenwaldes.

Mehrere Arten, eine neue Art zu definieren

Mit der Definition einer neuen Art ist es so eine Sache. Es gibt mehrere hilfreiche Methoden dazu, unter anderem gentische Analysen auf verschiedenen Ebenen. Doch gerade diese scheiterten bisher beim Cleesei wegen der schlechten Infrastruktur im Lande. Ein anderes Vorgehen besteht darin, ein paar Exemplare zu fangen und in einen Zoo (zwecks Erhaltung und Züchtung) und in ein Museum (als Belegsmaterial) zu transportieren. Auch dagegen spricht beim Cleesei alles: In Gefangenschaft überlebt er nur einige Tage, und Ausstopfen ist wegen seiner akuten Gefährdung kaum das richtige Vorgehen.

Der International Code of Zoological Nomenclature (das Regelwerk zur Beschreibung und Benennung neuer Tiere) fordert kein Museumsexemplar, konnte Urs Thalmann in Erfahrung bringen. Nachdem der Forscher seine Entdeckung mit sämtlichen bekannten Lemurenarten in Museen und Nachschlagewerken verglichen hatte, meldete er seine neue Art an. Doch wie sollte sie heissen?

John Cleese als Schutzherr der Lemuren

Die Registrierungsbehörde lässt auch bei der Namensgebung recht freie Hand. Der neue Name muss ein paar Bestimmungen erfüllen, wie: Er darf niemanden beleidigen und muss gut auszusprechen und zu schreiben sein, ansonsten ist man frei bei der Namenswahl. Thalmann entschied sich für Avahi cleesei (auf Englisch: Cleese’s woolly lemur), als Ehrerbietung an den britischen Schauspieler John Cleese, der seit Jahren Lemurenprojekte unterstützt und selbst einen Dokumentarfilm über die Halbaffen gedreht hat («Born to be Wild: Operation Lemur with John Cleese», 1999). John Cleese habe auch schon in einem Spielfilm die Tendenz von Zoos verspottet, nur gefährliche und dynamische Tiere auszustellen («Fierce Creatures», 1997), erzählt Urs Thalmann. Diese Kritik habe ihm gefallen, und die eher «unaufgeregte» Art des neuen Lemurs passe ganz gut zur filmischen Intervention des Spötters John Cleese.

Warten auf das ganz grosse Happy End

Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Einen Traum konnte sich der Entdecker der neuen Lemurenart noch nicht erfüllen: eine Forschungsstation auf Madagaskar, wo zusammen mit einheimischen Nachwuchswissenschaftlern kontinuierlich über Lemuren und andere auf Madagaskar einmalige Arten geforscht würde.

In diesen laubwerfenden westlichen Wäldern am Fuss der Tsingys leben die Wollmakis. In anderen Wäldern in der Region hat Urs Thalmann sie nie gefunden.

Seine bisherigen Forschungsreisen konnte Urs Thalmann immer mit Drittmitteln realisieren. Doch bei der erträumten Forschungsstation will es einfach nicht klappen. Über Stiftungen und private Spenden kommt nicht genügend Geld zusammen, und die madagassische Regierung ist nach Jahrzehnten sowjetischer Ausrichtung nicht in der Lage, für eine funktionierende wissenschaftliche Infrastruktur und eine gute Ausbildung zu sorgen. Noch hat Thalmann seine Vision nicht aufgegeben. «Die Chance ist fünfzig zu fünfzig.» Bis sich eine Entscheidung abzeichnet, arbeitet der Anthropologe und Lemurenfreund in der UniVerS-Koordinationsstelle im Dekanat der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Würde er den weichen Bürosessel tatsächlich wieder mit dem harten Leben auf Madagaskar eintauschen? Die Antwort kommt ohne Zögern: «Ja.»