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Professor Albert Schinzel vom Institut für Medizinische Genetik an der Universität Zürich beschäftigt sich in seinen Forschungsarbeiten täglich mit dem Einfluss der Gene auf den Menschen. Er ist überzeugt, dass dieMacht der Gene überschätzt wird, so wie dies vor hundert Jahren schon einmal der Fall gewesen sei. Damals sei diese Fehleinschätzung eine Folge der neu entdeckten Evolutionstheorie gewesen, heute geschehe sie unter dem Eindruck der Genforschung, sagte der Genetiker. In den letzten Jahren haben die Medien immer wieder von Funden einzelner Gene berichtet, die beispielsweise für Autismus oder Homosexualität zuständig sein sollen. Schinzel bezeichnete solche Versuche, komplexe Phänomene mit einem einzelnen Gen zu erklären, als «blanker Unsinn». Langlebigkeit trete zwar beispielsweise familiär gehäuft auf. Das bedeute aber nicht, dass sie nur genetisch bedingt sei, sagt Schinzel. Zwar sei das maximale Alter genetisch bedingt; wie alt man aber tatsächlich werde, könne etwa durch eine gesunde Lebensführung beeinflusst werden.
Für eine differenzierte Betrachtung des Konflikts zwischen Umwelteinflüssen und Genen plädierte auch Professor Remo Largo von der Medizinischen Klinik am Kinderspital Zürich. Der Autor der Bestseller «Babyjahre» und «Kinderjahre» zeigte am Beispiel der Sprache auf, wie eng die beiden Faktoren miteinander verwoben sind. Unterschiedliche Sprachen und Dialekte seien klar von der Umwelt geprägt. Trotzdem sei einiges dabei auch angeboren: Etwa das Erkennen des Unterschieds zwischen Sprache und Geräusch, was Kleinkindern das Erlernen der Sprache überhaupt erst ermöglicht. Angeboren sei auch die Fähigkeit, Grundregeln der Sprache zu erkennen, etwa Wortkategorien, Zeitformen und Konjugationen, erklärte Largo.
Professor Daniel Hell von der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich wies darauf hin, dass die meisten psychischen Leiden einen genetischen Anteil haben. Dennoch liesse sich keine dieser Erkrankungen nur durch die Gene erklären; statistisch würde der Einfluss der Umwelt überwiegen. Die Depression sei beispielsweise nur zu 30 bis 40 Prozent durch die Gene bedingt. Zudem trügen nie nur einzelne isolierte Gene die Schuld – es sei immer ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher Erbfaktoren mit der Umwelt.
Hell machte auch klar, dass ein Gen nicht gut oder böse sein kann. Je nach Lebensbedingungen könne ein Risikofaktor zum Schutzfaktor werden. Dies illustrierte er am Beispiel einer Studie mit Mäusen. Die Versuchstiere wurden dabei mit elektrischen Schlägen, denen sie nicht entkommen konnten, in einen depressionsähnlichen Zustand versetzt: Sie verhielten sich passiv und waren hilflos und apathisch. Einige Mäuse verfielen jedoch weniger schnell in diesen Zustand und blieben länger aktiv – in der grausamen Versuchssituation ein Vorteil, der zudem genetisch bedingt war. Es zeigte sich jedoch, dass diese Tiere in Alltagssituationen weniger anpassungsfähig waren. Der vermeintliche Vorteil hatte sich durch die geänderten Lebensbedingung in einen Nachteil verwandelt.
Moderator Beat Glogger gab sich nach den Referaten erstaunt über den Konsens zwischen den Experten. Schinzel lebe doch von der «Suche nach der Schuld der Gene» und Hell habe an seinem Institut unzählige Molekularbiologen angestellt, bemerkte Glogger. Die beiden Wissenschaftler sehen darin jedoch keinen Widerspruch: Es gehe darum, die Krankheiten besser zu verstehen und nach Möglichkeiten zu suchen, wie mit Medikamenten eingegriffen werden könnte. Glogger fasste zum Schluss der Veranstaltung die Antwort auf die Frage nach der Schuld der Gene zusammen: «Die Gene sind nicht die Kristallkugeln, aus denen wir unsere Zukunft ablesen können.»