Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Genetik

Der Dickdarm und das Recht auf Nichtwissen

Sollen bereits Kinder wissen, ob sie einmal an Krebs erkranken werden? Ein Podiumsgespräch anlässlich der Ausstellung «Der gespiegelte Mensch – in den Genen lesen» beschäftigte sich insbesondere mit dem umstrittenen «genetischen Screening».
Felix Straumann

Professor Joe Jiricny von der Universität Zürich erklärt, wieso Krebs entsteht

Die Geschichte ist zwar erfunden, könnte aber durchaus so passiert sein: Ein 40jähriger Mann, verheiratet und Vater von drei schulpflichtigen Kindern, hat sein ganzes Leben gesund gelebt. Er ist sportlich, hat nicht geraucht, trinkt kaum je über seinen Durst und achtet stets auf seine Ernährung. So steht auf seinem Speisezettel beispielsweise kaum je Fleisch, schon gar nicht vom Grill – denn er hat gehört, dass da besonders viele krebserregende Substanzen drin sind. Doch eines Tages merkt er, dass etwas mit seiner Verdauung nicht stimmt. Als er sich auf Drängen seiner Frau genauer untersuchen lässt, erhält er eine Diagnose, die ihn an seiner bisherigen Lebensführung zweifeln lässt: Dickdarmkrebs.

Mit dieser Erzählung führte Moderator Beat Glogger die Zuhörer der Podiumsdiskussion vom vergangenen Donnerstag im Landesmuseum zum Thema des Abends: «Krebs in der Familie. Genetisches Screening, Hoffnung und Realität». Es ist die vierte Veranstaltung in einer Reihe, die die Ausstellung «Der gespiegelte Mensch - in den Genen lesen» begleitet. Auf der Bühne waren vier Experten versammelt: Joe Jiricny, Professor für molekulare Krebsforschung an Universität Zürich, Dorothée Foernzler, Biologin bei Hoffmann-La Roche, der Ethiker Klaus Peter Rippe sowie Christoph Nabholz von der Swiss Re Versicherungsgesellschaft.

Die Biologin Dorothée Foernzler (rechts, neben Professor Joe Jiricny) befürwortet genetisches Screening bei Dickdarmkrebs.

Fachwissen als Einstieg in die Diskussion

Vor dem Einstieg in die Diskussion, erklärt Jiricny, was Krebs ist und wieso ein 40jähriger Mann trotz tadelloser Lebensführung so früh an Krebs erkranken kann. «In jeder Zelle befindet sich eine zwei Meter lange Kette aus Erbsubstanz», holt Jiricny aus. Im Lauf der Zeit nimmt diese immer wieder Schaden, was jedoch in der Regel durch effiziente Reparaturmechanismen behoben wird. Mit höherem Alter steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit für bleibende Genschäden, die eine Entartung der Zelle zur Folge haben. «Eine Darmzelle kann dann plötzlich beschliessen,sich nicht mehr wie eine Darmzelle zu verhalten und zu wuchern beginnen», so Jiricny.

Der Mann in der Geschichte hat eine besondere Form von Dickdarmkrebs, mit der sich auch Jiricny intensivbefasst. Sie bricht vergleichsweise früh im Alter zwischen 30 und 40 Jahre aus und betrifft rund vier Prozent aller Dickdarmkrebserkrankungen. Die Veranlagung zu diesem Krebs wird in der Hälfte der Fälle an die Kinder vererbt und lässt sich aufgrund eines Gendefekts mit neunzigprozentiger Sicherheit voraussagen.

Umstrittenes genetisches Screening

Wenn Dickdarmkrebs genügend früh erkannt wird, lässt er sich ziemlich problemlos behandeln. So auch beim erwähnten Familienvater: Er wird operiert und überlebt. Der behandelnde Arzt fordert anschliessend den genesenen Krebspatienten auf, bei seinen Kinder mit einem genetischen Screening abzuklären, ob diese die Veranlagung geerbt haben. «Würden Sie das wissen wollen?», fragt Moderator Glogger das Publikum.

Kritische Voten aus dem Publikum entfachen die Diskussion.

Nun beginnt erst der eigentlich kontroverse Teil des Abends. Im Publikum verneint eine Mehrheit Gloggers Frage. Man wolle die Kinder nicht für den Rest des Lebens mit einer unerfreulichen Weissagung belasten. Jiricny gibt jedoch zu bedenken, dass bei dieser besonderen Art von Dickdarmkrebs eine Vorhersage sehr sicher und die Krankheit meist heilbar sei. Deshalb mache ein Screening in diesem Fall durchaus Sinn. «Wenn bei einer anderen Krebsart die Diagnose nicht sicher und die Krankheit nicht behandelbar ist, dann würde ich es auch nicht wissen wollen», stellt Jiricny klar.

«Rote» und «grüne» Gentechnik

Bei den Wortmeldungen aus dem Publikum hat niemand bedacht, dass das genetische Screening bei einem negativen Befund auch eine Entlastung sein könnte. Für Ethiker Rippe keine Überraschung:«Im Gegensatz zur Spielbank, wo ich mir überlege, was passiert, wenn ich das Taschengeld meiner Tochter verliere, denkt bei der Gendiagnostik jeder an die Folgen einer schlechten Nachricht – auch wenn diese unwahrscheinlicher ist.» Wegen dieser persönlichen Betroffenheitsei auch die Gentechnik im Bereich der Medizin – Rippe nennt sie die «rote Gentechnik» – weitgehend akzeptiert. Ganz im Gegensatz zur «grünen Gentechnik», die stärker in der Kritik steht – laut Rippe vor allem aus Misstrauen gegenüber der Nahrungsmittelindustrie und weil die Bevölkerung das Gefühl hat, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht verbessert werden muss.

Recht auf Nichtwissen

Gegen Ende der Veranstaltung lenkt Glogger das Gespräch auf die Versicherungen. Diese stehen im Verdacht, aus der Gentechnik Kapital schlagen zu wollen, indem sie mit genetischen Tests möglichst alle Risiken auszuschliessen versuchten. «Versicherungen fragen schon seit 150 Jahren nach Krankheiten in der Familiengeschichte», wiegelt Nabholz von der Swiss Re ab. Die Aussagen von Genscreenings seien jedoch viel spezifischer, da eine Krankheit in vielen Fällen nicht weiter vererbt werde. «Die grundsätzliche Frage für uns ist jedoch: Versichern wir Risiken oder Wissen?», sagt Nabholz.

Christoph Nabholz von der Swiss Re erläutert den Standpunkt der Versicherer.

Wenn das Wissen über eine zukünftige Erkrankung schon vorhanden sei, dürfe es einem Versicherer nicht verschwiegen werden, sonst entstünde ein Ungleichgewicht, hält Ethiker Rippe fest. Es gebe für Betroffene aber ganz klar ein Recht auf Nichtwissen. Nur in Ausnahmefällen dürfe deshalb jemand dazu verpflichtet werden,eine genetische Abklärung zu machen. Etwa bei Piloten, wenn ein Screening bedeutsam für die Sicherheit der Passagiere ist.

«Die Mehrheit der Krankheiten wird man auch in Zukunft nicht vorhersagen können», relativiert die Biologin Dorothée Foernzler die Diskussion. Meist seien genetische Komponenten beteiligt, doch: «Die Gene sind normalerweise nicht die Hauptsache, wieso jemand dann krank wird.»

Felix Straumann ist freischaffender Wissenschaftsjournalist.

Weiterführende Informationen