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Kunst am Bau

Kuckucksei im Königsnest

Die Zürcher Künstlerin Ruth Handschin präsentiert wertlose Wiesenkräuter in 24 Karat Gold – und stellt damit bestehende Wertspähren nachhaltig in Frage. Am kommenden Wochenende findet die Vernissage des jüngsten Kunst-am-Bau-Projekts der Universität Zürich auf dem Irchel-Campus statt.
Sascha Renner

«La nouvelle tenue royale», Lack-Spray auf Wand, 415 x 275 cm, Institut für Hirnforschung, Universität Zürich

Oben, im ersten Stock auf dem grossen Ateliertisch, liegt sie, ihre ganz persönliche «Bibel»: Laubers «Flora Helvetica», ein Wälzer dick wie ein Ziegelstein, Umfang 1615 Seiten. Die Botaniker-Fibel bringt sämtliche 3000 Wildpflanzen der Schweiz in 3773 Farbfotos zur Darstellung. Ein wahrlich enzyklopädisches Werk, das den Stempel leidenschaftlicher Akribie trägt – wie auch jenes der 1949 geborenen Künstlerin Ruth Handschin. Seit über zwanzig Jahren ergründet, archiviert und kommentiert sie mit den Mitteln der Kunst, was manchem Gartenfreund den Schweiss auf die Stirn treibt: wild wachsende Pflanzen, «Unkraut» im Volksmund.

Handschin deutet auf eine Serie von Fotografien, die sie jüngst im neuen Stadtteil Zürich Nord gemacht hat: Der Blick fällt auf das kurz gemähte Rasenfeld des Louis-Häfliger-Parks, dann auf eine Flucht rasterartig aufgereihter Bäume im Oerliker Park. Ein botanischer Truppenaufmarsch, dem Ruth Handschin wenig abgewinnen kann. Dasselbe Bild kultivierter und gebändigter Natur prägt auch das Gebiet um den neuen Potsdamer Platz in Berlin. Die Künstlerin hat dieses von Grund auf umgestaltete Areal zwecks Spurensicherung immer wieder aufgesucht. «Dort, wo heute Zuchtrasen wächst, blühte damals, entlang der Berliner Mauer, eine ungeheuer vielfältige Natur», erzählt sie und macht aus ihrer Entrüstung über deren Verschwinden kein Hehl.

Überreicher Fundus: Ruth Handschins «Herbarium»

Schon früh hat Handschin beschlossen, dem unerwünschten Teil der pflanzlichen Natur ein Monument zu errichten. Sie begann zu sammeln, an Wegrändern, auf dem täglichen Weg ins Atelier, auf ihren zahlreichen Reisen, die sie bis nach Sri Lanka führten, wo die schönsten botanischen Gärten zu finden seien. Die mitgebrachten Pflanzen und Samen presst sie zu Hause, fotokopiert sie anschliessend auf A3-Bögen und gruppiert sie zu dicken Bündeln. Dieses «Herbarium» ist der unerschöpfliche Formenpool, aus dem Ruth Handschin immer neue Inspiration bezieht. Methodische Richtlinien bestimmen das weitere künstlerische Vorgehen: In einem Abstraktionsprozess wird aus den unterschiedlichen Blattformen einer Pflanzenart der klar erkennbare Grundtyp herausdestilliert. Ist das allgemeine Strukturprinzip einmal gefunden, wird es vergrössert und in raumfüllenden Leuchtzeichnungen, übergrossen Schattenrissen oder Gipsplastiken in immer neuen Varianten in Szene gesetzt.

«La nouvelle tenue royale», Blattgold, Acrylfarbe auf Kunstsstoff, Institut für Hirnforschung, Universität Zürich

So löst Handschin manches unscheinbare Wiesenkraut aus dem unbeachteten Naturzusammenhang. «Flora non grata» nennt sich dieses Langzeitprojekt, dessen Ziel es ist, die Augen für die morphologische Pracht des vermeintlich Wertlosen zu öffnen. Es hat seinen Weg mittlerweile in zahlreiche Ausstellungsräume im In- und Ausland gefunden.

Mit verschiedenen Kunst-am-Bau-Projekten dringt die Künstlerin auch in die Öffentlichkeit vor. In München gestaltet Handschin zurzeit ein 6,4 mal 4,7 Meter grosses Wandsegment mit Blattformen von Wildpflanzen. Auch in Zürich ist die gebürtige Baslerin mit einer Arbeit präsent: Im ersten Stock des Baus 55 der Universität Irchel befindet sich ihre monumentale Wandarbeit «Letters from nature» (2002). Sie stellt in silhouettenhafter Reduktion 44 Blattformen aus dem nahen Irchel-Park vor. Moschus-Malve, Schotenkresse, Bocksbart – Handschin beantwortet jede Nachfrage postwendend und ist so leicht nicht in Verlegenheit zu bringen. Ihre botanische Sachkenntnis liessen manchen Fachmann erstaunen.

«La nouvelle tenue royale», Blattgold, Acrylfarbe auf Kunstsstoff,Institut für Hirnforschung, Universität Zürich

Besonders überraschende Bezüge schafft Handschin in ihrer jüngsten Arbeit, die sie am kommenden Wochenende auf dem Irchel-Campus mit einer zweitägigen Vernissage eröffnet. «La nouvelle tenue royale» nennt sich die Stoffmusterkollektion, die an drei Wänden des Instituts für Hirnforschung angebracht ist. Sie schliesst ausgerechnet die Fleur-de-lis, das vornehme Lilienemblem der französischen Monarchie, mit einer Sammlung helvetischer Unkrautblätter kurz. Sonnenkönig Louis XIV., berüchtigt für das Zurechtstutzen pflanzlicher Natur, in Wicke, Gänsedistel und Hirtentäschel gewandet? Wider Erwarten würde ihm der neue Entwurf wohl anstehen. Denn die in Blattgold gehaltenen Schattenrisse entfalten auf ihrem königsblauen und purpurroten Grund eine ungeahnte Pracht. So ist denn die augenzwinkernde Rache an dem distinguierten Monarchen auch gleichzeitig ein Plädoyer für die Vielfalt, Schönheit und den Formenreichtum der gering geschätzten Gewächse – und als solches eine subversive Geste, die bestehende gesellschaftliche Wertspähren nachhaltig in Frage stellt.

Die Vernissage des Kunst-am-Bau-Projekts «La nouvelle tenue royale» findet am Samstag und Sonntag, 26. und 27. Juni, von 17 bis 20 Uhr im Institut für Hirnforschung der Universität Zürich-Irchel, Bau 55, Etage H statt. Ruth Handschin wird ihre Pflanzenmotive als Tatoos auf die Haut sprühen.

Sascha Renner ist Redaktor des unijournals.

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