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Politik in Zeiten des Neoliberalismus

Vier politische Schwergewichte lockten am Freitagabend hunderte Zuhörer an die Universität. Die Schweizerische Gesellschaft für Soziologie beendete mit einem Paukenschlag ihren dreitägigen Kongress.
Markus Binder

Die deutschen Politiker Heiner Geissler und Oskar Lafontaine kritisieren den Neoliberalismus.

Die Soziologen können eine beneidenswerte Grundfrage stellen: «Wie ist Gesellschaft möglich?» Mit dieser Frage haben die Schweizer Vertreter letzte Woche an ihrem Kongress den Neoliberalismus als Gesellschaftsmodell analysiert. Abschluss bildete ein Podiumsgespräch, an welchem der Zürcher Soziologieprofessor Kurt Imhof die Frage an die Politiker weiter reichte. Aus Deutschland angereist kamen Heiner Geissler, Ex-Generalsekretär der CDU und Oskar Lafontaine, Ex-Parteivorsitzender der SPD. Aus der Schweiz sassen Franz Steinegger, Ex-Parteipräsident der FDP und Peter Bodenmann, Ex-Parteipräsident der SP, am Tisch. Der neue Hörsaal neben der Mensa war randvoll, das Gespräch musste in einen weiteren Hörsaal übertragen werden. Die politisch und soziologisch interessierten Zuhörer wurden nicht enttäuscht. Zwar entstand erst gegen Ende so etwas wie ein Gespräch, aber die Analysen der vier Politiker waren nicht nur geistreich, sondern auch witzig. Am Schluss wurden die vier Herren gefeiert wie Popstars.

«Die hässliche Fratze des Kapitalismus»

Wie haben die vier Politgrössen den Neoliberalismus erlebt? Die deutschen Gäste hatten die Welt im Blick, die Schweizer Politiker vor allem ihr eigenes Land. Geissler meinte, ein entscheidendes Ereignis sei die neue Einheit Deutschlands gewesen. Im Osten sei alles dem Markt überlassen worden. «Das musste schief gehen», sagt der Mann, von dem sein einstiger Gegner Lafontaine sagt, er stehe mittlerweile weit links seiner eigenen SPD-Kollegen in der Regierung. «Der Markt ist gut, aber nur der geordnete Markt», sagte Geissler. Im Osten habe der Marktfetischismus voll durchgeschlagen: «Die neue Wirtschaftsordnung hat sich gezeigt in der hässlichen Fratze des Kapitalismus.» Der Staat müsse ordnen, damit der Markt nicht von einem oder von ein paar wenigen Unternehmen beherrscht werde. Geissler betonte, dass die Politik ein ethisches Fundament brauche. Um den globalisierten Markt ordnend in den Griff zu bekommen, brauche es einen Weltstaat und eine Spekulationssteuer.

Bei Schumacher die Daumenschraube ansetzen

Weniger Moralisierend trat Lafontaine auf und wies auf die Strukturveränderungen hin, die dem Neoliberalismus erst zum Durchbruch verholfen hätten: die Freigabe des Kapitalverkehrs und der Wechselkurse sowie die Computertechnologie. Aus 95 Prozent Realwirtschaft und 5 Prozent Spekulation sei das Gegenteil geworden, weil per Knopfdruck das Kapital überall hin verschoben werden könne. Nicht zuletzt entstehe dadurch eine «dramatische Lohnkonkurrenz». Wohlstand für alle sei das Ziel nach dem Krieg gewesen. Erreicht worden sei aber eine gewaltige Wohlstandssteigerung für wenige und die Verarmung ganz vieler, nicht nur in der dritten Welt. «Die Steuern der Reichsten sind gesunken, die der Mehrheit gestiegen.» Lafontaine kritisierte damit auch die Schweiz, wohin «jeder Besserverdienende und jeder politische Strolch» sein Geld transferieren könne, um Steuern zu sparen. Die «Daumenschraube» würde er bei Leuten wie Michael Schumacher oder Boris Becker ansetzen. Alle Subventionen müssten sie zurückzahlen, bevor sie mit ihrem Geld Deutschland verlassen könnten. «Man kann nicht von den Einrichtungen des Staates profitieren und nachher keine Steuern bezahlen.»

Von links: Franz Steinegger und Peter Bodenmann.

Die Schweiz nicht idealisieren

Solche Sätze wurden vom Publikum heftig beklatscht. Bodenmann war froh, dass Lafontaine die Schweiz kritisierte. «Es gibt die Tendenz, die Schweiz zu idealisieren», sagte er. Sie sei eine wichtige Finanzplattform und er glaube, dass sich Europa dies mittelfristig nicht mehr bieten lasse. «Das Bankgeheimnis ist ja in Wirklichkeit ein Steuerhinterziehungsgeheimnis.» Er forderte einen Beitritt der Schweiz zur EU, weil für die heutigen Probleme Europa der relevante politische Raum sei. «Dass wir nichts mehr zu sagen haben, wenn wir in der EU mitmachen, ist ein Mythos.»

Steinegger war an diesem Abend in der schwierigsten Position. Nicht nur weil er die Liberalisierungen befürwortete, sondern weil er als Bundesratskandidat als einziger noch politische Ambitionen hat. Steinegger sieht den Neoliberalismus weniger in der Politik, sondern mehr in der Finanzwirtschaft verwirklicht. Anhand der Staats- und Fiskalquote sei ersichtlich, dass der Staat nicht reduziert worden sei. «Ein neuer Feudaladel ist entstanden mit einer eigenen Kultur der Boni und Abgangsentschädigungen.» Die Politik zu globalisieren sei für die Schweiz ein Problem, weil sie in der EU ihre direkte Demokratie einschränken müsste , sagte Steinegger.

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