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Talk im Turm

Jungbrunnen der Gesellschaft

Wie können Kinder und Jugendliche glücklich gross werden und mit welchen Herausforderungen werden sie und ihre Eltern konfrontiert? Diese Fragen diskutierten die Neuropsychologin Nora Raschle und der Entwicklungspädiater Oskar Jenni am Talk im Turm.
Roger Nickl

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Vier Personen im Gespräch
Diskutierten am Talk im Turm zum Thema «Glücklich gross werden. Was es dazu braucht»: Moderatorin Rita Ziegler, Entwicklungspädiater Oskar Jenni, Neuropsychologin Nora Raschle und Moderator Thomas Gull (vlnr).

In der Kindheit wird das Fundament für ein gutes Leben gelegt. Sie ist eine Zeit, in der Kinder und Jugendliche idealerweise die Welt und sich selbst entdecken. Gleichzeitig werden an sie hohe Erwartungen und Anforderungen gestellt. In diesem Spannungsfeld diskutierten am letzten Dienstag im Talk im Turm im Restaurant UniTurm die Neuropsychologin Nora Raschle und der Entwicklungspädiater Oskar Jenni mit den beiden Moderator:innen Rita Ziegler und Thomas Gull, was es dazu braucht, damit Kinder und Jugendliche glücklich gross werden. Organisiert wurde die Veranstaltung gemeinsam von UZH Alumni und UZH Kommunikation.

Zusammen mit anderen Forschenden der UZH hat Entwicklungspädiater Oskar Jenni im letzten Jahr das Buch «Kindheit. Eine Beruhigung» veröffentlicht. Doch, was gilt es zu beruhigen? Wenn man sich die Geschichte vor Augen führe, sei es Kindern und Jugendlichen hierzulande noch nie so gut gegangen wie in den letzten Jahrzehnten, sagte Jenni. Allerdings habe sich die Situation in den letzten zwanzig Jahren eher verschlechtert. Gründe dafür sind Themen wie der Klimawandel und Kriege, aber auch ein erhöhter Schuldruck und ein gesellschaftlicher Hang zum Perfektionismus, die auf Kindern und Jugendlichen lasten. Und es bestehe auch bei Eltern eine grosse Verunsicherung. Wichtig sei, dass wir wieder mehr Vertrauen in die individuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben, so Jenni.

Individualität unterstützen

Die aktuelle Forschung in Medizin, Psychologie und Neurowissenschaften macht deutlich, dass Entwicklungsverläufe von Kindern und Jugendlichen sehr individuell sind. Die Diversität innerhalb der Normalverteilung ist sehr gross, betonte Nora Raschle, entsprechend sei es wichtig, die Individualität von Kindern und Jugendlichen zu erkennen und sie in ihren Eigenheiten zu unterstützen. Dies sei zentral für eine gute Entwicklung und ein zufriedenes Aufwachsen.

Die Kindheit dauert heute länger als noch vor einigen Jahrzehnten. «Kindheit und Jugend sind ein soziales Konstrukt», sagte Jenni, «was wir darunter verstehen, hat sich verändert – früher war die Kindheit nach der Schulzeit zu Ende, heute geht man davon aus, dass die psycho-soziale Reife erst mit 25 erreicht wird.» Dies spiegle sich auch in der Hirnreifung, die erst im Alter von 22 bis 25 Jahren abgeschlossen wird, ergänzte Nora Raschle. Auch das Timing der biologischen Reife hat sich verändert – allerdings in die Gegenrichtung. Kinder kommen heute wesentlich früher in die Pubertät als in der Vergangenheit. «Die Diskrepanz zwischen biologischer und emotionaler Entwicklung war noch nie so gross», hielt Jenni fest. Das könne auch zu Problemen führen.

Erzieherischer Balanceakt

Die Individualität der kindlichen Entwicklung spielt auch in der Erziehung eine grosse Rolle. Für eine gute Erziehung gebe es kein Patentrezept, betonte Jenni. Eltern erziehen in einer individuellen Beziehung zu ihren Kindern. Das heisst, die Kinder bestimmen mit ihren individuellen Charakterzügen wesentlich mit, wie sie erzogen werden. Das habe er selbst bei seinen drei Söhnen erfahren, die sehr unterschiedlich sind. Bei aller Unterschiedlichkeit gibt es aber auch Faktoren für ein zufriedenes Aufwachsen, die für alle gelten. Essenziell dafür seien gute Beziehungen zu den Eltern und anderen Bezugspersonen und in diesem Zusammenhang die fünf «V», wie der Entwicklungspädiater betonte: Eltern sollten vertraut, verlässlich, verfügbar, verständnisvoll und voller Liebe sein. Werden die fünf «V» gelebt, ist das ein gutes Fundament für ein glückliches Grosswerden.

Gute Erziehung ist für Eltern oft ein Balanceakt: Auf der einen Seite sollten sie ihren Kindern Freiräume geben und ihre Unabhängigkeit unterstützen, auf der anderen Seite stehen sie auch in der Verantwortung und haben eine Kontrollfunktion. «Hier die richtige Balance zu finden, ist schwierig», sagte Neuropsychologin Nora Raschle, die selbst Mutter dreier Kinder ist. Dies zeigt sich insbesondere in der Adoleszenz. In dieser Entwicklungsphase geht es darum, dass Jugendliche Grenzen austesten und diese zuweilen auch überschreiten. «Das ist mit Risiken verbunden, bietet aber auch grosse Chancen», so Raschle. «Jugendliche haben eine unglaubliche Energie – sie wollen die Welt verändern.» Dies bestätigte Oskar Jenni: Die Adoleszenz sei der Jungbrunnen der Gesellschaft, meinte er.

Weniger Druck in der Schule

Die Schule spielt für die Frage, wie Kinder und Jugendliche aufwachsen, eine zentrale Rolle. Sie vermittelt nicht nur Kulturtechniken und Wissen, sondern sie sozialisiert und selektioniert auch. Die Anforderungen und der Leistungsdruck haben in den letzten zwanzig Jahren massiv zugenommen. Dies machten verschiedene Studien deutlich, sagte Jenni. Das zeige sich auch bei Kindern und Jugendlichen, die er in der Sprechstunde am Kinderspital sehe.

Der Entwicklungspädiater plädierte deshalb dafür, den Druck in der Schule zu reduzieren. «Die Selektion nach der sechsten Primarschulklasse ist beispielsweise eindeutig zu früh und den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule sollte man abschaffen – das bringt nichts», sagte er. Die beiden Talk-Gäste waren sich einig, dass die Kindheit eine Lebensphase ist, die auf das Erwachsenenalter vorbereitet, aber auch einen eigenen Wert hat. Heute gehe es oft vor allem darum, den Nachwuchs fit zu machen für später. Dabei gehe das Kindsein zuweilen vergessen. «Auch hier sollte die Gesellschaft eine neue Balance finden», sagten Raschle und Jenni.

Der Talk im Turm als Podcast

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