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Teilchenphysik

Am Nabel des Universums

Florencia Canelli ist fasziniert von riesigen Maschinen und den kleinsten Teilchen, aus denen die Materie besteht. An der UZH und am Genfer Cern erforscht die Physikerin, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Roger Nickl
«Teilchenphysik ist nicht nur harte Forschungsarbeit, sondern auch ein anspruchsvoller sozialer Prozess», sagt Florenica Canelli. (Bild Marc Latzel)

 

Der ringförmige, fast 27 Kilometer lange Large Hadron Collider am Genfer Cern ist für viele Physikerinnen und Physiker das Zentrum der Welt – und gleichzeitig der Nabel des Universums. Im riesigen Teilchenbeschleuniger stossen Protonen fast mit Lichtgeschwindigkeit zusammen und zerfallen dabei in kleinste Elementarteilchen.

Auf diese Weise lassen sich faszinierende wissenschaftliche Fragen erforschen. Etwa dazu, wie Materie strukturiert ist und wie sie im Urknall entstanden sein könnte. Denn im LHC lassen sich hochenergetische Zustände herstellen, die denen kurz nach dem Big Bang ähnlich sind. So gesehen ist der Teilchenbeschleuniger auch eine riesige Zeitmaschine, mit der die Forschenden bis an die Anfänge unseres Kosmos reisen können.

«Der Large Hadron Collider ist ein Wunderwerk der Technik», sagt Florencia Canelli. Die Physikprofessorin erforscht am Cern und an der UZH die Eigenschaften von bereits bekannten Elementarteilchen wie den Quarks und sie macht Jagd nach Partikeln, die zwar von der Theorie vorausgesagt werden, bislang in Experimenten aber noch nicht nachgewiesen worden sind. Aus solchen Teilchen könnte etwa die sagenumwobene Dunkle Materie bestehen, die vermutlich ein Grossteil unseres Universums ausmacht.

Faible für Technik

Seit letztem Herbst koordiniert die Teilchenphysikerin eines der grössten Experimente am Cern, das CMS (Compact Muon Solenid), an dem rund 3500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt beteiligt sind. Canelli ist dafür zuständig, dass die Forschungsarbeiten rundlaufen und dass die wissenschaftliche Qualität der gegen hundert Studien, die dabei jedes Jahr entstehen, stimmt – eine verantwortungsvolle und zeitraubende Aufgabe. Und zudem eine höchst kommunikative: Teilchenphysik sei nicht nur harte Forschungsarbeit, sondern auch ein anspruchsvoller sozialer Prozess, sagt die 48-Jährige und lacht.

Ihr Faible für Technik und für knifflige Fragen entdeckte Florencia Canelli, die aus Argentinien stammt und grösstenteils in Paraguay aufwuchs, früh. Schon als Kind interessierte sie sich für die Rätsel der Natur und für den Ursprung des Kosmos – und sie war fasziniert von Autos und Flugzeugen. Ihr Vater, der in der paraguayanischen Hauptstadt Asunción als Automechaniker arbeitetet war an dieser Leidenschaft vermutlich nicht ganz unschuldig.

«Ich stamme aus einer typischen Working-ClassFamilie», sagt die Physikerin. Nicht nur deshalb war eine wissenschaftliche Laufbahn lange Zeit nicht auf dem Radar. Denn die Schule erstickte zuerst einmal jegliche Neugier. Der Unterricht am Gymnasium war langweilig, die Schulbücher hoffnungslos veraltet und die Lehrkräfte religiös geprägt. Das weckte Canellis Widerstandsgeist. Sie rebellierte und musste mehrmals die Schule wechseln.

Den Abschluss hat sie dann doch noch geschafft. In kürzester Zeit büffelte die damals 17-Jährige den vernachlässigten Schulstoff nach und machte sich für die Zulassungsprüfung zur Universität fit. «Ich musste mir das Wissen im Schnellzugstempo selbst aneignen», erzählt sie, «ich glaube, diese Erfahrung hat mir auch später in meiner Karriere geholfen. Ich habe gelernt, mich durchzuschlagen – wenn es sein muss, auch ohne Hilfe.»

Beschleunigte Karriere

In welche Richtung diese Karriere gehen sollte, war für Florencia Canelli nach einem Austauschjahr in den USA dann klar: Sie wollte Ingenieurin werden und grosse Maschinen entwerfen und bauen. Doch der Zufall wollte es anders: Da an der Universidad Nacional de Asunción bei ihrer Rückkehr aus Amerika keine Plätze für ein Ingenieurstudium mehr frei waren, schrieb sie sich kurzerhand in Physik ein – und blieb schliesslich bei der experimentellen Teilchenphysik hängen.

Denn da waren sie wieder: die lange verschüttete Neugier, die Freude an kniffligen Fragen, die Faszination für die grossen Rätsel der Natur – und für die Technik. In der experimentellen Teilchenphysik liessen sich all diese Interessen verbinden – die nicht ganz freiwillige Fächerwahl erwies sich nachträglich als Glücksfall.

Und so nahm Florencia Canellis Karriere langsam Fahrt auf. Über Stationen in Argentinien und den USA gelangte sie schliesslich ans Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) nahe Chicago, das damals den grössten Teilchenbeschleuniger der Welt besass. Hier blühte die Forscherin auf. In ihrer Dissertation untersuchte sie das Top-Quark, ein besonderes Mitglied des Teilchenzoos. Das Top-Quark hat eine 40-mal grössere Masse als seine Verwandten der Quark-Familie und verfügt deshalb über ganz andere Eigenschaften. Für ihre Studie heimste die junge Forscherin gleich drei renommierte Preise ein.

So wurden am Fermilab nicht nur Teilchen, sondern auch Florencia Canellis Forscherinnenkarriere beschleunigt. 2008 wurde sie als Professorin für Physik an die University of Chigago berufen und vier Jahre später wagte sie zusammen mit ihrem Mann, dem Experimentalphysiker Ben Kilminster, und ihren beiden Kindern den Sprung über den Atlantik an die UZH und ans Cern. Denn mittlerweile hatte sich der Nabel des Universums leicht verschoben. Der weltweit grösste und leistungsfähigste Teilchenbeschleuniger stand nicht mehr in Chicago, sondern in Genf.

Als Florencia Canelli 2012 ans Cern kam, konnte sie dort eine wissenschaftliche Sensation mitfeiern. Den Physikerinnen und Physikern des CMS-Experiments, mit denen die Forscherin bereits von den, USA aus zusammengearbeitet hatte, war es gelungen ein lange gesuchtes Teilchen endlich dingfest zu machen: das Higgs-Boson. Der Physiker Peter Higgs hatte dessen Existenz schon 1964 vorhergesagt – knapp 50 Jahre später konnte es dann nachgewiesen werden.

Mit dem Gatten Detektoren bauen

Seit zehn Jahren pendelt Florencia Canelli nun zwischen UZH und Cern hin und her. In Genf experimentiert sie und koordiniert für die nächsten zwei Jahre die Forschung am CMS-Experiment. Seit Anfang dieses Jahres vertritt die Physikerin die Schweiz zudem im international besetzten Cern-Rat – einem Gremium ausgewählter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, das die Geschäftsleitung des Cern, Behörden und Politik berät.

In Zürich denkt sie nach, rechnet und lehrt. Und sie geht ihrer Leidenschaft für grosse Maschinen nach. Im Keller des Physik-Instituts der UZH entwickelt und baut sie zurzeit einen neuen Detektor für die Forschung am Cern – ein regelrechtes Familienprojekt, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann betreibt, der auch Professor an der UZH ist.

Es ist nicht der erste Detektor, den die beiden gemeinsam entwickeln. Bereits 2017 wurde ein neues Messgerät aus dem Hause Canelli/Kilminster am CMS-Experiment montiert. Mit ihrem Pixeldetektor setzten sie damals neue Massstäbe: Das Hightech-Gerät zeichnet Teilchenkollisionen mit vierzig Millionen Bildern pro Sekunde auf.

Damit lassen sich die Elementarteilchen, die im Beschleuniger entstehen, mit einer noch nie dagewesenen Präzision vermessen. Doch dabei soll es nicht bleiben. Denn in der Teilchenphysik wird selbst die Forschung ständig beschleunigt: Die Beschleuniger werden immer grösser, die Detektoren immer genauer und damit unsere Vorstellungen davon, was die Welt im Innersten zusammenhält, immer präziser.

«Momentan sind wir gerade in einer kreativen Phase und versuchen, uns Möglichkeiten einer neuen Physik vorzustellen, die wir bisher nicht bedacht haben», sagt Canelli. Denn es gibt noch viele faszinierende offene Fragen im Universum der Elementarteilchen: zum Beispiel weshalb es so viele Teilchen gibt, wenn es für die Materie doch nur eines bräuchte. Oder eben das Rätsel, woraus die Dunkle Materie besteht.

Vielleicht gelingt es künftig mit dem Future Circular Collider (FCC), diese Fragen zu klären. Der gigantische Teilchenbeschleuniger, der viermal grösser wäre als der LHC, soll bis 2048 am Cern entstehen. Zumindest wenn es nach den Forschenden geht. Denn ob die kostspielige Mega-Maschine jemals gebaut werden kann, steht noch in den Sternen. «Mit dem FCC würden wir noch viel näher an den Ursprung des Universums herankommen und zu neuen Erkenntnissen über die Entstehung von Materie, Raum und Zeit gelangen», sagt die Forscherin. Und es würden sich viele neue knifflige Fragen stellen, die Florencia Canelli so liebt.

 

Dieses Porträt erschien zuerst im UZH Magazin 1/22

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