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ESSAY — Christoph Halbig zu Hegels 250. Geburtstag

Die Felsenmelodie des reinen Denkens

Weniger als Alles war Hegel immer zu wenig. Doch wenn man diesen Anspruch ernst zu nehmen versucht, was verdient dann an Hegel heute noch Beachtung?
Christoph Halbig
Hegel
Wirkliche Anerkennung ist, gemäss Hegel, nur auf der Basis wechselseitiger Achtung möglich.

 

Warum Hegel jetzt? Der blosse Hinweis auf den 250. Geburtstag des Gross-Philosophen in diesem Jahr dürfte angesichts starker Konkurrenz selbst von direkten Zeitgenossen kaum eine befriedigende Antwort auf diese Frage liefern: Ein Gedicht von Wordsworth oder Hölderlin, eine Symphonie von Beethoven mögen immer noch ihren Reiz entfalten, aber wer eines der Hauptwerke Hegels, etwa die «Wissenschaft der Logik», aufschlägt, dürfte vor allem irritiert sein. Harald Schmidt hat vor einigen Jahren einmal daraus vorgelesen, und zwar über die Lautsprecheranlage eines deutschen Hauptbahnhofs. Als Folge verloren sogar hartgesottene und leidgeprüfte Kunden der Deutschen Bahn die Orientierung.

Überhaupt lädt Hegel geradezu ein zu pauschaler Ablehnung: Hölderlin mag man seine notorische Humorlosigkeit gern nachsehen, der Rang seiner Dichtung lässt sich allerdings nur schwer bestreiten. Aber Hegel? Schon Marx glaubte ja, dass man ihn zumindest vom Kopf auf die Füsse stellen müsse, um etwas Rechtes mit ihm anfangen zu können, und bereits eine Generation nach Hegel war die allumfassende Systemphilosophie des Berliner Meisterdenkers angesichts des unzweifelhaften Siegeszugs der philosophisch ernüchterten Naturwissenschaften und ihrer technischen Anwendungen gründlich vergessen.

Das Wirkliche und Vernünftige

Noch ein toter weisser Mann also, für den allein das Ganze das Wahre sein konnte, dessen er sich natürlich höchst exklusiv in der Gelehrtenstube des Berliner Ordinarius zu vergewissern glaubte? Und hat nicht Hegel mit seiner notorischen Formel, dass das Wirkliche zugleich das Vernünftige sei, die ultimative Rechtfertigung aller Diktaturen dieser Welt von der preussischen Restauration bis zum Nordkorea der Gegenwart geliefert? Von Hegels Sprache ganz zu schweigen – hochgradig technisch, eine «groteske Felsenmelodie» (wieder Marx) von abstrakten Begriffen, das reine Denken, das sich bewusst von jeder Anschaulichkeit freihalten wollte und dadurch doch nur unverständlich und hässlich wird?

Und doch: Hegel lebt, und zwar nicht bloss in den üblichen Oberseminaren des akademischen Betriebs. Vielmehr reiht sich eine Hegel-Renaissance an die nächste, und dies an den am wenigsten zu erwartenden Stellen: vom Paris der Nachkriegszeit bis zu amerikanischen Elite-Universitäten, die gerade innerhalb der analytischen Philosophie eine hegelianische Wende vollziehen (Chicago Hegelians, Pittsburgh Hegelians…). Und dann das Ende der Geschichte, ausgerufen unter Berufung auf Hegel nach dem Ende des Kalten Krieges (Fukuyama) oder zumindest das Ende der Kunst, eine These, die seit Hegels Ästhetik eigentlich nie zur Ruhe gekommen ist.

Doch Hegel lässt sich seinem eigenen Anspruch nach nicht auf eine Summe von ansonsten eher zufällig miteinander verbundenen Anregungen reduzieren. Er war entschiedener Systemphilosoph, der nicht durch einzelne Thesen überzeugen, sondern die Wirklichkeit insgesamt, und zwar als ganze auf den Begriff bringen wollte. Weniger als Alles war Hegel immer zu wenig. Doch wenn man diesen Anspruch ernst zu nehmen versucht, was verdient dann an Hegel heute noch Beachtung?

Hegels Holismus

Erstens erweist sich Hegels berühmter Slogan «Das Wahre ist das Ganze» keineswegs als Ausdruck metaphysischen Übermuts, sondern als Ausdruck seines konsequenten Holismus: Nichts lässt sich für Hegel bloss aus sich selbst heraus verstehen. Nicht nur Bedeutungen oder Normen, sondern sogar natürliche Entitäten existieren für Hegel nie isoliert voneinander, sondern stehen in Beziehungen zueinander, die den Relata dieser Beziehungen nicht äusserlich bleiben, sondern vielmehr für sie konstitutiv sind. Damit unterläuft Hegel einfache Dichotomien wie die von wahr und falsch oder auch die von Geist und Natur: Jede beliebige Aussage, sie mag lokal betrachtet noch so zutreffend sein, lässt sich in eine grössere Perspektive einordnen, in der ihr notwendig partielles Recht sichtbar wird. Und auch Natur und Geist, also die Gesamtheit aller normengeleiteten theoretischen und praktischen Aktivitäten, stehen sich bei Hegel nicht in schroffer Opposition gegenüber: Am Beispiel des menschlichen Organismus zeigt er eindrucksvoll, dass scheinbar bloss biologische Abläufe eingebettet sind in eine Teleologie, die sich nur rückblickend, ausgehend von anspruchsvollen kognitiven und praktischen Leistungen rekonstruieren lässt. Und umgekehrt: Geistiges muss gleichsam übergehen in Fleisch und Blut, oder, in Hegels Formulierung, sich verleiblichen lassen. Wer eine Pressekonferenz von Donald Trump in Zeiten von Corona sieht und danach nicht auch ein Gefühl des Zorns in der Magengrube verspürt, anstatt bloss nüchtern die Falschheit und Unverantwortlichkeit seiner Aussagen zu konstatieren, macht aus Hegels Sicht etwas falsch.

Die Realisierung der Freiheit

Das gilt zweitens auch für das Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften überhaupt. Hegel misstraut ambitionierten Reduktionsprogrammen (z. B. Schmerz ist nichts anderes als das Feuern bestimmter Synapsen) nicht weniger als unfruchtbaren Dualismen (z. B. der Mensch als «mixed bag» aus unsterblicher Seele und mechanischem Leib). Nicht nur setzt die Art und Weise, wie das Lebewesen Mensch geistige Leistungen realisiert, notwendig Natur voraus, auch umgekehrt bildet die Natur keinen sich selbst genügenden Bereich, auf den sich dann alles Nicht-­Natürliche entweder reduzieren lassen oder eben aus dem Mobiliar des Universums gestrichen werden muss, sondern sie verwirklicht für Hegel selbst Strukturen, die über sich selbst hinausweisen. In welche Richtung? In Richtung auf zunehmende Realisierung von Freiheit.

Der Schlüssel zu Hegels gesamter Philosophie ist nämlich drittens die Freiheit. Freiheit, so seine Kernformel, als Im-Anderen-bei-sich-Sein setzt zum einen Distanz voraus. Das Andere muss als Anderes respektiert werden. Dies gilt namentlich für das Verhältnis von Subjekten zueinander. In der berühmten Dialektik von Herr und Knecht in der «Phänomenologie des Geistes» zeigt Hegel, dass der Knecht, der sich dem übermächtigen Herrn aus Angst um sein Leben unterwirft, gerade das nicht leisten kann, was der Herr sich von ihm erhofft: Sein Lob des Herrn ist ja allein schon dadurch entwertet, dass es bloss der Knecht ist, der da lobt, womöglich einfach aus Angst vor Sanktionen. Wirkliche Anerkennung ist dagegen nur auf der Basis wechselseitiger Achtung möglich. Selbst ein unbequemer Befehl etwa zum Einhalten strikter Quarantänevorschriften kann so zum Raum der Erfahrung von Freiheit werden, wenn sich nämlich der Empfänger des Befehls aus guten Gründen mit der legitimen staatlichen Instanz, die ihn ausspricht, identifiziert und sich so gerade im Abstandhalten sowohl mit den konkreten Anderen, also seinen Mitmenschen, wie mit der staatlichen Ordnung, der er angehört, verbunden weiss.

Freiheit nun betrachtet Hegel viertens als notwendig gebunden an das, was er Sittlichkeit nennt: Freiheit geht, anders als libertäre Denker meinen, nicht auf in den Verhältnissen atomarer Individuen, die im Dienste jeweiliger maximaler Präferenz­erfüllung Vertragsverhältnisse untereinander eingehen und bestenfalls einer Überwachungs- und Sanktionsinstanz bedürfen, die dafür sorgt, dass alle (oder hinreichend viele) nach den Regeln spielen. Freiheit bedarf für Hegel vielmehr eines institutionellen Rahmens, oder eigentlich im Plural: mehrerer geeigneter solcher Rahmen. Vertrauen und Intimität wachsen für Hegel vor allem in der Familie, setzen dafür aber voraus, dass Familienmitglieder einander nicht als Vertrags- oder als Rechtssubjekte gegenübertreten – so zumindest Hegels aus heutiger Sicht durchaus provokante These.

Zum Wohle der Gemeinschaft

Und der Beruf sollte nicht bloss ein Vehikel zum Geldverdienen sein, sondern sich verstehen lassen als sinnvoller Beitrag zum Wohl der eigenen Gesellschaft – Hegel hält sehr, wiederum eine uns heute reichlich fremde Kategorie – auf so etwas wie Berufsehre und Berufsethos. Und wegen dieser Orientierung an der Leitlinie der Freiheit ist Hegel auch das genaue Gegenteil eines unkritischen Denkers: Wirklich sind für Hegel nur solche Formen von Gesellschaft und Staatlichkeit, die sowohl die Freiheit ihrer Mitglieder ermöglichen und tragen als auch selbst auf kollektiver Ebene Freiheit verwirklichen.

Und falls jemand nun doch Hegel wiederlesen will (Klassiker sind ja nach Italo Calvino Autoren, die immer nur wiedergelesen, aber nie gelesen werden)? Vielleicht eine Einführung? Bei Hegel gibt es jede Menge an Einleitungen und Vorworten. In fast allen steht eines: dass es in die Philosophie, recht verstanden, keine Einleitung geben kann. Hegel ist eben konsequenter Holist. Man muss schon ins Becken springen, um Schwimmen zu lernen, sich also der Philosophie bei der Arbeit aussetzen. Immerhin: Hegel hat nicht zufällig vor allem durch seine Vorlesungen – zur Ästhetik, zur Weltgeschichte, zur Geschichte der Philosophie – gewirkt. Die haben nämlich den Vorzug, zwar auf Hegels mündlichen Vortrag zurückzugehen, aber nicht von ihm selbst publiziert, sondern von intelligenten Schülern aus Nachschriften zu einem häufig gut lesbaren Text kompiliert worden zu sein. Hegels Überlegungen zur griechischen Skulptur oder zur holländischen Genre-Malerei verbinden erstaunliche kunsthistorische Sensibilität mit einer elaborierten philosophischen Ästhetik, die den Test der Erfahrung nicht zu scheuen braucht.

Schliesslich die von Hegel selbst veröffentliche Rechtsphilosophie: Auch wer deren komplexe Willenslehre nicht nachvollziehen mag, wird dort prägnante (und provokante) Theorien zu Institutionen wie der modernen Wirtschaft oder auch der Familie finden, die in der modernen Soziologie, aber auch in Rechtsphilosophie und -praxis vieler Länder bis heute ihr Anregungspotenzial bewahrt haben. Aber Vorsicht: Als noch schwieriger, als in Hegels System hineinzukommen, hat es sich in den letzten 200 Jahren nur erwiesen, aus ihm wieder herauszukommen – die Philosophie­geschichte seit Hegel liesse sich in guten Teilen als ein solches Projekt der Abnabelung von Hegel lesen. Und diese Form von Hartnäckigkeit mag nicht das geringste Symptom echter argumentativer Substanz darstellen. Zum 300. Geburtstag wird wieder jemand in diesem Magazin an Hegel erinnern, so viel ist sicher.

 

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