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Ein Gläschen in Ehren – wo fängt Alkoholsucht an?

Der Genuss von Alkoholgetränken wird schneller zur Sucht als häufig angenommen. Psychiatrieprofessor Erich Seifritz erklärt, welches Verhalten kritisch ist und wie moderne Therapieformen Betroffenen helfen können.
Sabina Huber-Reggi
Eine Frau trinkt ein Glas Wein.
Zum Wohl? Der Genuss von Alkohol kann in eine Sucht umschlagen.

 

Ein Glas Wein zum Abendessen oder ein Drink an einem schönen Sommerabend verschönern das Leben. Alkohol gehört seit jeher in fast allen Kulturen zum Leben. Der Grat zwischen Genuss und Sucht ist jedoch schmal. Allein in der Schweiz leben 300‘000 alkoholabhängige Personen und 1‘600 davon sterben jährlich an den Folgen des Alkoholkonsums. «Alkohol wird schneller zum Problem, als man denkt», sagte Prof. Erich Seifritz, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, zu Beginn seines Referats im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wissen-schaf(f)t Wissen des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie.

Es reichen im Durchschnitt bereits zwei kleine Gläser Wein, um Alkoholkonzentrationen im Blut zu erreichen, die unerwünschte Wirkungen zeigen, wie eine Verminderung des Seh- und Hörvermögens sowie eine Verlängerung der Reaktionsfähigkeit. «Es gibt brauchbare Tools im Internet, sogenannte Promille-Rechner, die anhand der getrunkenen Alkoholmenge und einfachen Angaben, wie Geschlecht, Körpergrösse und Gewicht, den zu erwartenden Blutalkoholwert abschätzen lassen», sagte Seifritz. Diese Tools könnten hilfreich sein, um das Bewusstsein dafür zu wecken, wie schnell der Alkoholspiegel im Blut ansteigt. Man müsse sich jedoch auch bewusst sein, dass der tatsächliche Blutalkoholwert von vielen Faktoren abhänge, sagte der Psychiater. Zudem sei nicht jeder, der regelmässig Alkohol trinkt, automatisch auch süchtig.

Wenn Genuss zur Sucht wird

«Suchterkrankungen sind immer sehr komplex, nicht einfach quantifizierbar und verhaltensbezogen», erklärte Seifritz. Das heute gültige Diagnosesystem der WHO, das ICD-10, gebe Anhaltspunkte, die auf eine Substanzabhängigkeit hindeuten können. Typisch seien Kontrollverlust und Zwang, eine bestimmte Substanz zu konsumieren. Zudem gewöhne sich der Körper bei einer Suchterkrankung an den Wirkstoff und die Person müsse eine höhere Menge konsumieren, um die gewollte Wirkung zu erreichen. Beim Absetzen der Suchtmittel träten Entzugserscheinungen auf. Schliesslich würden die Betroffenen die Substanz weiter konsumieren, obwohl dies zu körperlichen, psychischen und sozialen Folgeschäden mit Vernachlässigung von anderen Lebensbereichen führe, erklärte Seifritz.

Wie Sucht im Gehirn entsteht

Süchtig wird man erst nachdem man bestimmte Substanzen wie Alkohol regelmässig und in hohen Mengen konsumiert hat. Doch welche Gehirnmechanismen stecken dahinter? Man weiss bereits, dass beim Konsum von Suchtmitteln Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet werden, die angenehme Gefühle auslösen. Doch die Nervenzellen in diesem sogenannten Belohnungssystem und deren Rezeptoren verändern sich schrittweise bei regelmässigem starken Konsum. Beteiligt sind neben dem sogenannten Dopaminsystem auch die Opioidrezeptoren, die sich durch übermässigen Alkoholkonsum verändern.

«Diese Vorgänge sind extrem komplex und wir verstehen sie nur teilweise. Unsere Forschung an der Klinik zielt darauf ab, die Mechanismen besser zu verstehen, mit der Hoffnung, mit innovativen Therapien immer besser und gezielter eingreifen zu können.», sagte Seifritz.

«Das primäre Ziel heutiger Therapien ist es, den Konsum von Alkohol zu reduzieren, um die Sucht in den Griff zu bekommen», erklärte Seifritz. Eine komplette Abstinenz werde heute in den meisten Fällen nicht mehr primär angestrebt. Es sei so weniger schwierig, die Betroffenen in der Therapie zu halten, fügte er an. In der ersten Phase der Therapie geht es vor allem darum, die körperliche Gesundheit zu stabilisieren, die Laborwerte zu verbessern und das Überleben zu sichern. Dies kann je nach Fall stationär oder auch ambulant erfolgen. Danach werden die Patientinnen und Patienten vor allem psychotherapeutisch begleitet, damit ein Leben mit einem kontrollierten Alkoholgenuss unter Aufsicht möglich ist.

Motivation ausschlaggebend

Obwohl eigentlich wirksame Medikamente vorhanden sind, werden diese in weniger als zehn Prozent der Fälle eingesetzt. Diese Versorgungslücke ist bedauerlich. Sie liegt nicht zuletzt auch an der Stigmatisierung von psychischen und insbesondere von Suchterkrankungen. Medikamente können vor allem helfen, Rückfälle zu vermeiden. Einige davon, zum Beispiel Acamprosat, reduzieren das Verlangen nach Alkohol, in dem sie die Rezeptoren der Nervenzellen besetzen, die dieses Verlangen auslösen. Andere, zum Beispiel Naltrexton, hemmen die Opiatrezeptoren, so dass der Rauscheffekt von Alkohol ausbleibt. Auch die neuste Substanz, die in der Schweiz zur Verfügung steht, Nalmefen, hat Eigenschaften, die eine Verminderung der Trinkmenge unterstützen Der bekannteste Wirkstoff ist Disulfram, oder auch Antabus genannt, der das Enzym Alkoholdehydrogenase hemmt, was den Abbau von Alkohol verlangsamt und zu einer Anreicherung von Acetaldehyd führt. Diese ruft unangenehme Nebenwirkungen wie Hautausschlag oder Kreislaufbeschwerden hervor.  Diese sogenannte «Aversionstherapie» sollte nur bei sehr kooperativen Patienten durchgeführt werden, weil die Nebenwirkungen lebensgefährlich sein können.

«Medikamente können höchstens zur Unterstützung eingesetzt werden», mahnte Seifritz. Wichtig sei die Motivation, etwas verändern zu wollen. Weil dies aber alleine schwierig zu bewältigen ist, empfiehlt Seifritz neben einer gezielten psychotherapeutischen Unterstützung auch den Eintritt in die Selbsthilfegruppe «Anonyme Alkoholiker». «Die AA ist für viele Betroffene eine enorm wichtige Stütze», sagte er aufmunternd. Bei den Treffen hört jeder dem anderen zu und Erfahrungen werden ausgetauscht. Die Solidarität, die Betroffene bei den AA erleben, ist ein sehr wichtiger Therapiebaustein auf dem Weg von der Abhängigkeit in ein wieder unabhängigeres autonomeres Leben.