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Kinder- und Jugendliteratur

Im Reich der Fantasie

Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) erforscht, dokumentiert und fördert die Schweizer Kinderliteratur. Anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums hat es den «Atlas der Schweizer Kinderliteratur» herausgegeben.
Denise Fricker
Wer findet den Schellenursli und die Zürcher Stadtgartenschnecke? Die hier gezeigte Grafik von Laura Jurt ist eines von zwanzig Bildern im «Atlas der Schweizer Kinderliteratur». Zusammen vermitteln sie einen Eindruck von der Vielfalt der Schweizer Illustrationslandschaft.

 

Wenn sich der Himmel in diesen Tagen rötlich färbt, backen die Helferinnen und Helfer des Christkinds fleissig Weihnachtsplätzchen. Die Himmelswerkstatt läuft vor Heiligabend auf Hochtouren. Manch ein Kind erzählt, das Christkind auch wirklich gesehen zu haben.

Zauberhafte Geschichten gibt es nicht nur zur Weihnachtszeit. Die Schweizer Kinderliteratur ist vielschichtig und reich an Themen und Erzählungen, wie der «Atlas der Schweizer Kinderliteratur» aufzeigt. Er vereint 20 Textbeiträge von verschiedenen Autorinnen und Autoren, die sich mit der Literatur für Kinder und Jugendliche aus den vergangenen 20 Jahren beschäftigen. Entstanden sind Essays und wissenschaftliche Texte zu unterschiedlichsten Themen. Jeder Text beleuchtet ein Thema und analysiert, wo und wie dieses in Werken der Kinderliteratur auftaucht. Die Beiträge bieten verschiedene Zugänge: Sie handeln etwa davon, wie Kinderliteratur in jungen Jahren unsere Sprache erweitert, von der Schweizer Kinderbuchszene und ihrer Förderung oder wie Migration und Identitätssuche in Kindergeschichten thematisiert werden. Der Fokus liegt vorwiegend auf der Deutschschweizer Kinderliteratur, an einzelnen Stellen werden aber auch Verbindungen über die Sprachgrenze hinaus hergestellt.

Imaginäre Landkarten

Eine Illustration eröffnet jeden Beitrag und gliedert so das Buch. Die mit Pinsel, Bleistift und Schabkarton gestalteten Bilder übersetzen Aspekte des textlichen Inhalts in imaginäre Welten. Somit finden sich im Atlas 20 zeichnerische Positionen, welche die Vielfalt der Schweizer Illustrationslandschaft aufzeigen. Die reichhaltigen Bilder laden ein, den jeweiligen Text auf spielerische Art zu erkunden.  

Der Atlas richtet sich an ein breites Publikum: Neben dem Fachpublikum, wie etwa Lehrpersonen und Sprachwissenschaftler, finden auch Eltern darin Informationen und Inspirationen zur Vielfalt der Schweizer Kinderliteratur. Mit dem Atlas kann Unbekanntes entdeckt und Bekanntes aus neuen Blickwinkeln betrachtet werden. Dank dem breiten inhaltlichen Spektrum dient er als Kompass auf der Entdeckungsreise durch die vielfältige Literatur für junge Menschen.

Reale Orte verlassen

Legende
Der «Atlas der Schweizer Kinderliteratur»

Elisabeth Eggenberger, die bei der Erstellung des Atlas mitwirkte, schreibt in ihrem Beitrag über den Wandel der Schweizer Kinderliteraturszene. Sie erklärt dazu: «Viele Kinder- und Jugendbuchverlage aus der Deutschschweiz sind in den letzten 20 Jahren geschlossen worden oder sind ins Ausland abgewandert. Dadurch ist der Literaturmarkt internationaler geworden.» Heimische Autorinnen und Autoren suchten sich vermehrt Verlage in Deutschland. Diese Abwanderungen blieben nicht ohne Folgen. Eggenberger beobachtet, dass die Präsenz von realgeografischen Orten in Erzählungen in den vergangenen Jahren abgenommen hat. Geschichten müssen ohne Bezug zu wirklichen Orten funktionieren. «Eine Geschichte findet somit eher auf einem neutralen Berggipfel und weniger auf dem Jungfraujoch statt», erklärt die Kinderliteraturkritikerin.  

Eggenberger erläutert einen weiteren Grund, weshalb realgeografische Orte weniger wichtig geworden sind. Mit der Veränderung der Erziehungskonzepte in den 1970er-Jahren werde dem Individuum mehr Bedeutung zugetragen: «Im Zentrum stehen jetzt oft die seelischen Nöte eines Kindes», schreibt sie in ihrem Beitrag. Somit habe eine Verschiebung von der Aussenwelt zur Innenwelt stattgefunden. «Der psychologische Roman ist wichtiger geworden», sagt Eggenberger. Darin geht es um Themen wie Identitätssuche: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin?

Ausbruch in andere Welten

In einem anderen Beitrag wirft die Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher einen wissenschaftlichen Blick auf die Bedeutung von Fantasiewelten in Kindergeschichten. Erfundene Geschichten bieten Kindern Räume, um sich in andere Welten hineinzuversetzen und mit neuen Rollen zu experimentieren.

«Im kindlichen Alltag braucht es einen Raum für Abenteuer, für das Wilde und Verrückte, das Unheimliche und das Grossartige, das aus der Fantasie, aus den Träumen, aus dem Unbewussten ins Leben hereindrängt», schreibt Lötscher und verweist dabei auf Franz Hohlers Geschichte Tschipo. Darin vermischen sich Träumerei und Realität: Tschipo nimmt einen lebendigen Pinguin aus seinem Traum in die reale Welt zurück.

Auch die gedankliche Reise in die Himmelswerkstatt zu tausend tüchtigen Engelein bietet den Kindern die Chance, die Grenzen des Möglichen zu erkunden und auszuloten. Und manch ein Erwachsener wünscht sich wohl, diesen Zauber noch einmal durch Kinderaugen erleben zu dürfen.