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Literaturnobelpreis 2017

«Ein echter Weltliterat»

Der britisch-japanische Schriftsteller Kazuo Ishiguro erhält den diesjährigen Literaturnobelpreis. Warum der Autor von «The Remains of The Day» ein würdiger Gewinner ist, erklärt UZH-Professor Philipp Theisohn.
Philipp Theisohn
Kazuo Ishiguro
Ganz und gar nicht konventionell, jedes seiner Werke ist ein Grenzgänger: Literaturnobelpreisträger Kazuo Ishiguro.

 

Kazuo Ishiguro – das ist durchaus eine bemerkenswerte Wahl der Jury. Natürlich ist nach der Entscheidung für Bob Dylan im vergangenen Jahr das Aufsehen nicht so gewaltig, handelt es sich bei Ishiguro doch erwartungsgemäss um einen «handelsüblichen» Romanschriftsteller.

Konventionell ist er indessen ganz und gar nicht: Jedes seiner Werke ist ein Grenzgänger. Seine frühen Werke bis hin zu seinem grossen Durchbruch The Remains Of The Day (Was vom Tage übrigblieb, 1989), verhandeln das Verhältnis von totalitärer Vergangenheit und verschwiegener Gegenwart, schreiten zugleich die kulturellen Verbindungsfäden zwischen Ost und West, Asien und Europa, Japan und England aus. Seine jüngeren Romane Never let me go (Alles, was wir geben mussten, 2005) und The Buried Giant (Der begrabene Riese, 2015) öffnen die klassische Erzählform wiederum zu den Genres der Science Fiction und der Fantasy hin.

Reisen in die Zukunft und in die Vergangenheit

Ishiguros Texte lieben das Experiment, sie können weit in die Zukunft reisen oder sich hinab in ein illiterates Frühmittelalter stürzen. Sie fürchten weder Magie noch Biotechnologie; sie kennen sowohl grosse Kriege als auch das kleine, stille Gefecht. Erfüllt sind sie von einer ungeheuren Strenge: Die Figuren, die Ishiguros Welten bevölkern, sind grundsätzlich Schicksalsträger und lernen nach und nach, dass sich ihr Lebenswille auf Illusionen gründet. Das gilt zweifellos sowohl für den Butler Stevens in «The Remains of the Day» als auch für die Klone in «Never let me go» oder Axl und Beatrice aus «The Buried Giant».

Zum beherrschenden Sujet dieser Literatur wird das Verhältnis der einzelnen Figuren zu ihrer Biographie, mithin: die Frage der Individualität, die Bedeutung von Erinnerungen. Angetrieben werden diese Reflexionen dabei von der Kunst der Parabel. Ishiguro hat ein ungeheures Gespür für das Gleichnis, in dem sich das «Ganze» spiegelt und sich nicht nur die Figuren, sondern auch die Leserinnen und Leser für einen kurzen Moment einmal von aussen in den Blick bekommen.

Eigenwilliger Erzählkosmos

Man wird lange suchen müssen, bis man Ishiguros Bücher in eine uns bekannte literarische Tradition stellen kann. Sie gehören einem eigenen, faszinierenden, sich immer wieder neu erfindenden Kosmos an. Dieser Autor hat sich schon immer seine eigenen Regeln gemacht; gerade die Debatte um «The Buried Giant» hat dabei deutlich werden lassen, dass er die starren Grenzen literarischer Konventionen nicht nur überschreitet, sondern nicht einmal kennen will. Insofern hat man es hier zweifellos mit einem eher progressiven – und absolut würdigen – Preisträger zu tun: einem echten Weltliteraten. Wer ihn noch nicht entdeckt hat, der darf seine Auszeichnung zum Anlass nehmen, dies nun zu tun. Auch wenn man immer noch – leider vergeblich – auf Don DeLillo, Margaret Atwood oder Thomas Pynchon hofft.