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«Wilhelm Tell ist einfach eine gute Geschichte»

In seinem neuen Buch analysiert Literaturprofessor Peter von Matt die «Seelengeschichte» der Schweiz. Im Interview erklärt er, weshalb wir gute Geschichten brauchen, um zu wissen, woher wir kommen.  
Thomas Gull, Roger Nickl
«Die Innerschweiz als Ursprung ist der intellektuelle Joker, um die politischen Gegensätze nicht akut werden zu lassen», Peter von Matt.

Herr von Matt, in Ihrem neuen Buch «Das Kalb vor der Gotthardpost» beschäftigen Sie sich mit der «Seelengeschichte» der Schweiz. Wenn Sie Psychiater wären, in welchem Zustand befindet sich die Schweizer Seele?

Peter von Matt: Die Schweiz lebt in einer emotionalen Doppelung: Einerseits ist da der Rückgriff auf das Herkommen, auf die Tradition, um sich ihrer selbst zu versichern. Sobald dieser Gestus zurück geschehen ist, kommt das Gegenteil, da schlägt es um: in die Auseinandersetzung mit der Welt, das Fortgehen. Dieses Hin und Her, diese Dynamik ist weder erforscht noch bewusst.

Was machte denn unsere Tradition aus?

Dazu gehören die Berge, die als nationales Symbol ein Produkt des 17. und 18. Jahrhunderts sind. In meinem neuen Buch interpretiere ich deshalb Albrecht von Hallers Gedicht «Die Alpen», um zu zeigen, dass es so etwas wie eine Urgeschichte gibt, die Vorstellung der vollkommenen Welt in einer ganz armen, aber perfekten Gesellschaft in den Bergen. Das war eine illusionäre Theorie, die aber bis heute weiterwirkt. Allerdings nur noch in ihren Elementen, nicht mehr als Ganzes.

Haben Sie gerade eine nationale Schizophrenie diagnostiziert?

Nein. Es ist nicht schizophren, wenn man sich seiner Ursprünge versichert, um überhaupt in die Zukunft gehen zu können. Das ist die Situation jedes Einzelnen, wie es auch die Situation eines Landes sein kann. Dem muss man sich stellen.

Problematisch wird es, wenn man daraus ein Entweder-Oder macht. Es geht um einen dynamischen Prozess. Man soll uns das Bewusstsein des Herkommens, der Tradition, all dessen, was unbestimmt oder präzise zur Schweiz gehört, nicht verderben. Aber man darf uns auch nicht darauf fixieren, so dass wir zuletzt bis zu den Knien im alten Sumpf stecken.

Tun wir das denn nicht?

Nein, die Schweizer sind ja überall, man findet sie im letzten Winkel unseres Planeten. Wir sind immer noch ein ausfahrendes Volk. Das ist ganz wichtig für unser Land. Damit hängt auch unser wirtschaftlicher Erfolg zusammen. Teile des Marsmobils werden in Sachseln hergestellt. Das ist tiefste Innerschweiz. Diese Streuung hochqualifizierter Industrieunternehmen bis in die Alpentäler zeichnet die Schweiz aus. Mit einem Fuss sind wir hier, aber mit dem anderen draussen in der Welt.

Heute lassen vor allem die Rechtskonservativen die Erinnerung an die traditionelle Schweiz aufleben. Die liberale und linke Schweiz hat dem wenig entgegenzusetzen. Es ist eine Art Kulturkampf im Gang um die Deutung unseres nationalen Selbstverständnisses. Wie beurteilen Sie das?

Das sind Elemente der politischen Propaganda. Die eine Seite bedient sich der Ursprungsmythen und verabsolutiert sie. Sie unterschlägt, dass Ursprung immer eine Konstruktion ist. Jedes Volk braucht seinen Ursprung. Aber es muss ihn zuerst konstruieren und dann daran glauben und ihn benutzen. Die politische Propaganda kann davon Gebrauch machen. Das ist nicht verboten, sollte aber historisch reflektiert sein.

Was uns allzuoft geboten wird, ist eine Art nationale Briefmarkensammlung mit Morgarten und Sempach und ohne die Bauern- und Religionskriege. So verspricht man den Schweizern in einer unsicher gewordenen Welt absolute Sicherheit. Man verkauft ihnen ein Sicherheitsgefühl, und sie bezahlen dafür mit ihren Stimmen.

Sie erwähnen in Ihrem Aufsatz «Die Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt» Alfred Escher, den grossen liberalen Patron des 19. Jahrhunderts, der aber offenbar keine Figur ist, die zum Nationalhelden taugt. Weshalb gibt es keinen liberalen nationalen Mythos?

Escher ist schon eine Heldenfigur. Der gleiche Bildhauer, der das Telldenkmal in Altdorf gemacht hat, hat Eschers Statue auf dem Zürcher Bahnhofplatz geschaffen.

Doch Tell ist im nationalen Bewusstsein präsent. Escher nicht, oder?

Darauf kann ich als Literaturwissenschaftler antworten: Alfred Escher ist einfach keine gute Geschichte, Tell aber schon. Die Menschen brauchen gute Geschichten. Was wir Mythen nennen, sind gute Geschichten, die einen bestimmten Zweck erfüllen, deshalb erzählen wir sie. Wenn wir Kinder grossziehen, wissen sie irgendwann, dass es dass Christkind nicht gibt. Trotzdem wollen sie an Weihnachten daran glauben und freuen sich darauf.

So geht es uns mit Wilhelm Tell. Man weiss eigentlich, dass diese Geschichte auf wackligen Beinen steht, aber wir haben keinen Ersatz dafür. Und es ist eben auch eine gute Geschichte. Deshalb erzählen wir sie unseren Kindern.

Wenn die Vergangenheit konstruiert ist: Weshalb ist nicht die Geschichte der Stadt Bern oder der Stadt Zürich zum Ursprungsmythos unseres Landes geworden, sondern der Rütlischwur?

Weil dadurch das Duell zwischen Bern und Zürich verhindert werden konnte. Die Innerschweiz als Ursprung ist der intellektuelle Joker, um die politischen Gegensätze nicht akut werden zu lassen. Natürlich sind für die reale Geschichte der Schweiz die Städte viel wichtiger – Bern, Zürich, auch Luzern. Doch daraus kann man keinen Ursprung machen. Wir brauchen dafür Geschichten, die einen psychischen Nährgehalt haben.

Unbesehen, ob diese Geschichten einen wahren Kern haben oder nicht?

Die Frage ist nicht, hat der Tell gelebt oder nicht, sondern welches politische Bedeutungspotenzial hat eine Geschichte wie jene von Tell. Die Tell-Geschichte erzählt davon, dass man in den grössten Schwierigkeiten noch etwas machen kann. Es ist eine Geschichte gegen die Resignation. Die Deutschen haben in ihren Ursprungsgeschichten nur Resignation – den Kaiser etwa, der im Berg schläft und eines Tages wiederkommt.

Die Tell-Geschichte hingegen ist in einer skandalösen Weise die Geschichte des politischen Handelns, unbekümmert um Fragen der Moral in einer bestimmten Notsituation.

Das passt zu uns?

Die Schweiz hat das immer wieder getan, etwa im Zweiten Weltkrieg. Sie hat die Moral angekratzt, aber mit Schummeln und mit Tricks hat man das Land durch den Krieg gebracht.

Deshalb lebe ich noch. Ich bin in Stans aufgewachsen, neben Stans lag ein Militärflugplatz, der bombardiert worden wäre, sobald der Krieg losgegangen wäre. Deshalb habe ich grosses Verständnis für die politische Kunst, mit der die Schweiz sich durch den Krieg manövriert hat.

Was Sie jetzt machen, ist moderne Theologie.

Was meinen Sie damit?

Dass man die Bibel immer neu interpretiert, je nachdem, wo man gerade steht. Tell steht doch dafür, dass man die fremden Herren aus dem Land jagt.

Das sagen jetzt Sie. Sie machen doch jetzt Theologie, päpstliche Theologie, indem Sie festlegen, wie eine Geschichte gedeutet werden muss. Ich bin Katholik und müsste das eigentlich unterstützen. Die Protestanten halten es anders. Sie sagen: Ich lese die Bibel und mache mir selber ein Bild davon, was drinsteht. Als Literaturwissenschaftler sage ich: Geschichten sind wie Tiere, sie haben a priori keine Bedeutung. Diese erhalten sie erst in der Begegnung mit dem Leser.

So geht es uns mit dem Tell, wir können da reinlesen, was wir wollen?

Interessant ist, dass selbst die Historiker den Tell immer wieder als historische Wirklichkeit dargestellt haben, sobald die Schweiz in Gefahr war. Sie sagten dann: Es deutet doch viel darauf hin, dass es ihn gegeben hat. Wir müssen annehmen, dass er existierte. War dann die Gefahr vorbei, sagten die Historiker wieder: alles

Märchen und Erfindungen.

Die Historiker haben mehr oder weniger erfolgreich daran gearbeitet, die Mythen zu demontieren. Brauchen wir jetzt neue sinnstiftende Erzählungen? Und wie müssten diese beschaffen sein?

Um zu wissen, wer man ist, braucht man sowohl die Erinnerung als auch die Zukunft. Man braucht ein Woher und ein Wohin. Beides ist schwierig, beides sind Entwürfe. Man geht auf etwas zu, das man sich zurechtlegt, und man kommt von etwas her, das man sich zurechtlegt. Der Historiker Roger Sablonier, ein lieber Kollege, hat vor seinem Tod das Buch «Gründungszeit ohne Eidgenossen» geschrieben. Es ist ein faszinierendes Buch. Es zeigt, wie ungesichert die ganze Gründungsgeschichte ist. Aber wo es darum geht, wie es denn wirklich war, steht fast alles im Konjunktiv. So könnte es gewesen sein, aber vielleicht auch so. Das ist wissenschaftlich

korrekt, aber was nützt mir der Konjunktiv?

Ist die Dekonstruktion die grosse Abrissbirne und was wir jetzt haben Ground Zero?

Nein, wir haben nicht Ground Zero. Die kollektive Erfahrung stirbt nicht, wenn sie verunsichert ist. Sie sucht sich neue Wege. Gegenwärtig sucht man den Ursprung eher in der Nähe. Die Grossväter und ihre Welt, die Bücher über Namenlose und Gequälte, Verdingkinder, Schicksale aus dem 20. Jahrhundert, die lange unbeachtet blieben. Das ist ein neuer Landgewinn in der Vergangenheit, der auch so etwas wie ein Herkommen schafft. Ähnlich sind die neuen Bewegungen in der Volksmusik, wo man alte Melodien sucht und sie mit modernen vermischt. So kommt man weg vom Verschmockten und schafft etwas, das trotzdem zu uns gehört.

Das heisst, statt der grossen nationalen Erzählung gibt es eine Vielzahl von individuellen und regionalen Erinnerungskulturen?

Genau das kann man jetzt beobachten. In den Alpentälern, die sich langsam entvölkern, richtet man kleine Museen ein, die aufbewahren, was noch zu finden ist. Immer im Versuch, Vergangenheit lebendig zu halten und den Jungen zu überliefern, bevor sie in die Städte abwandern. Ich sage nicht, das sind die neuen Mythen. Wir wissen nicht, welches die neuen Mythen sein werden und ob sie eines Tages auftauchen wie die alten.