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Schweizer Literatur

Verjüngungskur für C. F. Meyer

Conrad Ferdinand Meyer: Der neben Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf bekannteste Schweizer Autor des 19. Jahrhunderts wird von der Literaturgeschichtsschreibung schmählich vernachlässigt. Sonja Osterwalder, Postdoktorandin am Deutschen Seminar, widmet sich im Rahmen ihres Habilitationsprojekts einer neuen Verortung des Autors.
Viviane Strebel

«Es gibt Autoren, die vor ihrer Zeit verstauben, andere sind ewig jung. Conrad Ferdinand Meyer hat das Pech, zur ersten Kategorie zu gehören», fasst Sonja Osterwalder, Postdoktorandin am Deutschen Seminar und Stipendiatin des Forschungskredits der Universität Zürich, das Schicksal des einst erfolgreichen Schriftstellers zusammen.

Schlecht ergangen

Obwohl Meyer (1825–1898) seinen festen Platz im Kanon des gymnasialen Deutschunterrichts und im universitären Lehrangebot hat, ist es ihm in der literaturwissenschaftlichen Forschung seit den 1910/20er Jahren schlecht ergangen. Im Vergleich zu Gottfried Keller oder auch Jeremias Gotthelf sei C.F. Meyer ungleich weniger beliebt, erzählt Osterwalder. Darüber hinaus sind vielen Analysen häufig Werturteile beigemischt. An diesem Tatbestand hat auch die historisch-kritische Werkausgabe wenig geändert.

C. F. Meyer: Faible für historische Romane und Novellen.

Die Gründe dafür sind verschieden: Die bis auf wenige Ausnahmen humor- und ironiefreie Schreibweise und der Hang zum Pathos lassen Meyers Prosa bisweilen gestelzt, künstlich und etwas altertümlich wirken. Ebenso trägt die Wahl von ausschliesslich historischen Stoffen, beispielsweise aus der Zeit der Renaissance oder des Dreissigjährigen Krieges, nicht zu seiner Popularität bei – ganz anders als zu seinen Lebzeiten, der eigentlichen Blütezeit des Historismus.

«Richtiggehend abgeschlachtet»

In der Reihe der Autoren, die zur Epoche des Realismus gezählt werden, nimmt C.F. Meyer zudem eine Sonderrolle ein. Zum Beispiel wird Gewalt in seinen Texten oft sehr unvermittelt und explizit dargestellt. «In Meyers Roman Jürg Jenatsch wird der Titelheld in der Schlussszene richtiggehend abgeschlachtet – eine Schilderung, die angesichts ihrer Blutrünstigkeit überhaupt nicht zu dem realistischen Prinzip der Wohltemperiertheit passt», erklärt Osterwalder.

Dass Meyer in Bezug auf die Epochenzugehörigkeit eher als Randständiger wahrgenommen wird, ist nach Meinung von Osterwalder vor allem der Tatsache geschuldet, dass unsere heutige Sicht des Realismus zu eng ist. In der Literaturgeschichte hätten sich bezüglich dieser Epoche viele Klischees gebildet, indem der Fokus eher auf die Gemeinsamkeiten als auf die bestehenden Differenzen gerichtet wurde.

Im Rahmen ihres Projekts will Osterwalder die Eigenheiten von Meyers Erzählweise herausarbeiten, dadurch dass sie sein Werk mit zeitgenössischen realistischen Autoren in Beziehung setzt. Davon erhofft sie sich einerseits, das in der Literaturgeschichte gewissermassen zu einer Marmorbüste erstarrte Bild des Autors aufzubrechen; andererseits eine neue Perspektive auf die ganze Epoche zu gewinnen.

Blutrünstige Szenerie: «Die Ermordung des Georg Jenatsch». Historienbild von E. Sturtevant

Psychologische Erzählweise

Anregend soll dabei eine Erweiterung der Perspektive über den deutschsprachigen Raum hinaus sein. Gerade in der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur gibt es interessante Parallelen zu entdecken.

Spannend bei Meyer ist zum Beispiel seine psychologische Erzählweise, die Art, wie er mittels Beschreibung von Äusserlichkeiten die inneren Vorgänge seiner Figuren darstellt. Hier lässt sich eine fruchtbare Parallele zum Werk von Henry James ziehen, dem Autor von «The Portrait of a Lady». Bei beiden Autoren bleiben die eigentlichen Motive der Figuren zu grossen Teilen im Dunkeln.

Eigentümliche Sogwirkung

Die eigentliche Analyse der Primärtexte ist Osterwalder sehr wichtig. Was banal klingt, hat in Bezug auf Meyer aber eine besondere Bedeutung. Denn in der literaturwissenschaftlichen Forschung etablierte sich – als Folge von Sigmund Freuds Interpretationen von Meyers Novellen – die Tradition, immer wieder die psychischen Erkrankungen des Autors zu thematisieren. Also im Sinne der Psychoanalyse den Niederschlag des «unbewussten Lebens» des Autors in seinen Texten zu untersuchen.

Obwohl das Zusammenspiel von Leben und Werk zweifellos interessant ist, gilt Osterwalders Interesse in erster Linie Meyer als Erzähler. Gerade da sieht sie eine Stärke seines Schaffens. Zum Beispiel in der Anwendung einer Art Kamera-Technik, die den Texten Schnelligkeit verleiht: ständige Perspektiv-Wechsel, scharfe Schnitte. «Wenn ich Jürg Jenatsch lese, habe ich immer das Gefühl, im Kino zu sitzen», beschreibt Osterwalder ihren Eindruck. In diesem Sinne entwickeln die Texte auch heute noch eine eigentümliche Sog-Wirkung, der man sich nur schwer entziehen kann.