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Zwangsheirat

«Einmal weg, heisst nicht für immer weg»

Demnächst wird der Bundesrat die Botschaft für Massnahmen gegen Zwangsheiraten verabschieden. Die Badener Rechtsanwältin Yvonne Meier hat zu diesem Thema eine Dissertation verfasst und kennt gleichzeitig die Realität. Sie fordert einen stärkeren Opferschutz im Ausländerrecht sowie mehr Sensibilisierung in Schulen und Spitälern.
Interview: Claudio Zemp

UZH News: Frau Meier, welche Fälle von Zwangsheiraten gibt es in der Schweiz?

Yvonne Meier: Als Anwältin bin ich hauptsächlich mit zwei Fallkonstellationen konfrontiert: Solche, wo man sofort handeln muss, weil die Frau die Ehe oder die Familie schon verlassen hat. Und andere, wo eine Frau immer noch unter Druck gesetzt wird und einen Ausweg aus der Zwangslage sucht.

Wie kommunizieren Sie mit solchen Klientinnen?

Oft über E-Mail oder über Drittpersonen. Momentan schreibt mir eine junge Frau E-Mails über ihr Handy. Das kann sie nur im Versteckten vor ihren Eltern. Sie darf das Haus nicht allein verlassen. Übrigens eine Schweizerin mit abgeschlossener Ausbildung, die gegen ihren Willen verheiratet werden soll.

Ist das ein Einzelfall?

Nein, es gibt mehrere solche Fälle. Aber oft wird die Problematik durch das Umfeld nicht erkannt. Meistens wird gehandelt, wenn häusliche Gewalt vorliegt. Erst im Nachhinein kommt zum Vorschein, was hinter dem familiären Unterdrucksetzen steckt. Oft merkt man, wenn eine Frau sich trennen will, dass es gar nie eine Einwilligung für diese Ehe gab.

Gegen die Zwangsheirat: Kampagne der Menschenrechtsorganisation «Terre des femmes».

Die Zwangsehe ist also ein Teil des Problems in Familien mit patriarchalischen Strukturen. Könnte denn die Eskalation für die Betroffenen ein Ausweg sein?

Die Angst ist meistens grösser als die Hoffnung. Die betroffenen Frauen sind meistens so stark in die Familienstruktur eingebunden, dass es sehr schwierig ist, sich jemandem anzuvertrauen. Oder nur schon die ungestörte Zeit zu finden, eine Beratungsstelle telefonisch zu kontaktieren. Die meisten Frauen haben auch extrem Angst, was passiert, wenn zum Beispiel ihrem Vater eine gerichtliche Verfügung zugestellt wird, er dürfe mit der Tochter keinen Kontakt mehr haben.

Eine Anzeige bedeutet den Bruch mit der Familie.

Zumindest vorübergehend. Die Frauen sagen mir: Wenn mich der Vater noch einmal sieht, lebe ich nicht mehr. Sie werden mit Todesdrohungen konfrontiert. Deshalb kann ich als Anwältin nicht viel machen, wenn die betroffene Frau noch nicht dazu bereit ist, die Zwangsehe oder die Familie zu verlassen. Wenn aber jemand schon weg ist und mir sagt, sie könne nicht mehr heim, können sofort Schutzmassnahmen eingeleitet werden. Allerdings gibt es eine hohe Rückfallgefahr.

Frauen kehren freiwillig in die Zwangsehe zurück?

Ja, das gibt es. Eine Mandantin, deren Ehe in der Schweiz für ungültig erklärt worden wäre, hat sich nun - ihrer Familie zuliebe - doch dazu entschieden, ihren Ehemann zu akzeptieren, mit welchem sie zwangsverheiratet wurde. Sie kennt den Mann nicht, aber sie chattet jetzt im Facebook mit ihm und meint, jaja, das kommt schon gut. Er lebt im Ausland und ein Familiennachzugsgesuch ist hängig. Falls er dann hierher kommen könnte, lerne sie ihn jetzt kennen. So läuft das.

Anwältin Yvonne Meier über die Zwangsheirat: «Religiös und geografisch kann man das Phänomen nicht
einschränken.»

Wann ist eine arrangierte Ehe eine Zwangsehe?

Theoretisch ist das relativ einfach: Wenn die Frau nicht gefragt wurde, ist es Zwang. Wenn sie aber gefragt wurde und die betroffene Frau tatsächliche eine Möglichkeit hat, den Vorschlag abzulehnen, dann ist es kein Zwang, sondern eine arrangierte Ehe. In der Praxis ist der Übergang fliessend, man muss jeden Fall einzeln prüfen. Zentral ist für mich nicht nur: Wurdest Du gefragt oder nicht? Sondern auch: Wie ist die Hierarchie in der Familie? Wie ist die Mutter im Bild. Was sagen die Brüder? Wer bestimmt was? Aufgrund des Familienbildes spürt man, was eigentlich los ist. Die Frau sagt vielleicht schon, ja, ich wurde gefragt. Aber ich konnte sicher nicht nein sagen! Sie wäre beispielsweise verstossen worden. Entscheidend ist also, ob sie überhaupt eine Möglichkeit hatte, sich zu widersetzen. 

Kommen Zwangsehen eigentlich nur bei kulturellen Minderheiten vor?

Religiös und geografisch kann man das Phänomen nicht einschränken. Es gibt sie überall. Sicher oft in islamischen Ländern, aber auch im Christentum, im Hinduismus und so weiter. Die Betroffenen stammen aber oft aus bescheidenen Verhältnissen, geprägt durch ein altmodisches Familienbild, verbunden mit hierarchischem Denken; die Bildung ist gering oder fehlt gänzlich.

Was sind denn die Motive?

Traditionen, Ehrgedanken und Kontrolle durch Familienabsprachen. Die Motive sind vielschichtig und komplex. Eine Zwangsheirat beruht oft auf einer Verknüpfung verschiedener Motive. Um die Gründe zu verstehen, muss man sich mit den historischen, sozialen und kulturellen Hintergründen auseinandersetzen.

Wie schätzen Sie das Ausmass ein?

Das ist schwierig zu schätzen. Ich hatte noch keinen Fall, wo eine Frau hier vors Zivilstandsamt gezerrt worden wäre. Die meisten Ehen werden im Ausland geschlossen und sollen dann anerkannt werden. Anschliessend folgt das Gesuch um Familiennachzug.

In der Schweiz gibt es aber juristische Mittel, um sich zu wehren.

Ja, aber das ist trotzdem schwierig! Ich hatte eine Klientin, die durch einen Familiennachzug in die Schweiz kam. Sie war zwei Jahre lang eingesperrt, konnte kein Wort Deutsch und durfte die Wohnung nur einmal in der Woche in Begleitung der Mutter verlassen, weil sie einkaufen musste. Eines Tages kritzelte sie ‹POLIZEI› auf einen Zettel und floh aus der Wohnung. Zum Glück traf sie auf eine hilfsbereite Passantin. Aber die Frau riskierte ihr Leben. Sie wusste, wenn die Flucht nicht gelingt, würde sie es wohl nicht überleben.

Viele Fragen: Statistiken zur Zahl von Zwangsehen in der Schweiz gibt es nicht.

Geht die Zwangsheirat immer einher mit totaler Isolation?

Völlige Isolation ist selten. Aber überall herrscht Kontrolle. Die meisten Frauen dürfen keinen Deutschkurs besuchen, geschweige denn einen Integrationskurs.

Was erwarten Sie vom neuen Gesetz gegen Zwangsheirat?

Im Vergleich zu Deutschland und Österreich ist die Schweiz im Rückstand. Zum Beispiel können aktuell unmündige, ausländische Personen in der Schweiz heiraten, obwohl sie nicht 18-jährig sind, sofern dies ihr Heimatrecht erlaubt. In Deutschland und Österreich sind Schutzmassnahmen gegen Zwangsheiraten bereits gesetzlich verankert. Zudem sind die Interventions- und Präventionsmassnahmen gegen Zwangsheiraten weiter entwickelt als in der Schweiz.

Braucht es einen neues Verbot von Zwangsheirat?

Die Zwangsheirat ist aus strafrechtlicher Sicht eine Form der Nötigung. Ich bin für die Einführung eines Spezialstraftatbestandes, obwohl das den Betroffenen einer Zwangsheirat nicht viel hilft. Aber ein Tatbestand der Zwangsheirat könnte zusätzliche Konstellationen erfassen, etwa Taten im Ausland. Oder eine Zwangsehe könnte als Dauerdelikt ausgestaltet werden, welches nicht verjährt. Wichtiger als ein Strafartikel finde ich ausländergesetzliche und international privatrechtliche Massnahmen. Etwa, dass das Aufenthaltsrecht für die Opfer von Zwangsheiraten gesichert ist.

Warum?

Sehr oft werden Frauen, die noch nicht drei Jahre verheiratet sind und in der Schweiz leben, nach einer Trennung des Landes verwiesen. Damit sich eine betroffene Frau gegen die Zwangsheirat zur Wehr setzen kann, muss mindestens ihr Aufenthaltsstatus gesichert sein. Sonst ist die Hemmschwelle für eine Meldung zu hoch. Sicherzustellen ist auch, dass die Aufenthaltsbewilligung nicht verfällt, wenn jemand gegen den eigenen Willen im Ausland verheiratet und festgehalten wird.

Ist denn das Opfer immer nur die Frau? Es werden ja zwei Personen verheiratet.

Betroffen sind vorwiegend Frauen. Die Männer sind durch die grössere persönliche Freiheit und die bessere Entfaltungsmöglichkeit besser geschützt. Obwohl auch bei verheirateten jungen Männer in der Anfangsphase eine Zwangslage besteht. Die Männer werden dann aber in der Regel davon überzeugt, dass sie von einer Eheschliessung profitieren. Vor allem trägt nach der Heirat die Frau viele alltägliche Lasten. Zudem sind die Männer im Rahmen der sexuellen Integrität weniger gefährdet. Und falls der Mann eine Heirat ablehnt, wird dies von der Familie eher akzeptiert.  

Wo könnte denn die Schweiz mehr tun, um Zwangsheiraten präventiv zu verhindern?

Die Lehrerschaft müsste sensibilisiert werden. Damit sie weiss, was zu tun ist, wenn ein Mädchen sich äussert, bald zwangsverheiratet zu werden. Informationskampagnen helfen, dass Betroffene zu Opferhilfestellen oder zur Vormundschaftsbehörde finden. Auch die Polizei sollte nicht nur auf Gewaltspuren, sondern auch auf den Hintergrund achten. Und in den Spitälern fehlt oft das Verständnis. Sehr oft werden Ärzte mit Kulturen konfrontiert, die sie nur ungenügend verstehen. Und nicht zuletzt sind die Ausländerbehörden und das Zivilstandwesen zu sensibilisieren. Sowohl beim Familiennachzug aus auch bei der Eheschliessung sollte überprüft werden, ob beide Ehegatten die Ehe aus freiem Willen wünschen.

Der Zivilstandsbeamte soll nicht nur Scheinehen, sondern auch Zwangsheiraten verhindern?

Wenn nur schon geringe Zweifel da sind, darf die Ehe nicht geschlossen werden. Nach geltendem Recht hat das Zivilstandsamt die Trauung erst zu verweigern, wenn erhebliche Zweifel am freien Willen eines Verlobten bestehen. Bei Verdacht auf eine Zwangsheirat sollte ein verbindliches Gespräch mit der betroffenen Person möglich sein. Dies allenfalls in Anwesenheit einer Drittperson, die sich mit der Kultur auskennt.

Und was wäre neben der Sensibilisierung zu tun?

Die Schweiz könnte bei der Intervention einiges verbessern. In Deutschland gibt es Mädchenhäuser und spezielle Frauenhäuser nur für Opfer von Zwangsheiraten. Neben der Krisenintervention ist vor allem auch eine Nachbetreuung von zentraler Bedeutung. Dabei versucht man in einem weiteren Schritt, dass die Betroffenen eigene Wohnungen mieten können und eine Arbeitsstelle finden. Das Ziel sollte sein, dass man der betroffenen Person bei der Integration hilft. Dazu gehören etwa Arbeit, Sprache oder der Aufbau des sozialen Umfeldes. Das Problem ist, dass die Frauen in ihren Familien von einer Integration ausgeschlossen werden.

Sie sind es sich nicht gewohnt, alleine zu leben.

Meistens nicht, weil sie zuerst von den Eltern kontrolliert wurden und nachher vom Mann oder von dessen Familie. In der Schweiz fehlt es bisher an solchen Integrationshilfen. Wir haben zwar Frauenhäuser, aber dort können unmündige Frauen nicht hin. Und das einzige Mädchenhaus im Kanton Zürich hat nur sieben Plätze und ist fast immer vollständig besetzt. Man hat auch die finanziellen Mittel nicht, diesen Frauen bei der Wohnungssuche zu helfen. Man schickt sie einfach aufs Sozialamt. Ohne Nachbetreuung gehen deshalb viele von diesen Frauen wieder zurück in ihr Familienumfeld. Einmal weg, heisst nicht für immer weg.