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UZH News

Zürcher Poetikvorlesung 2011

«Die zehn Gebote sind ganz fabelhafte Vorschriften»

Sibylle Lewitscharoff, Stuttgarterin, Religionswissenschaftlerin und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin, ist dieses Jahr Gastrednerin der Zürcher Poetikvorlesung – einer gemeinsamen Veranstaltung des Deutschen Seminars und des Literaturhauses Zürich. Mit UZH News sprach die Schriftstellerin über das Handwerk der Dichtkunst und biblische Wahrheiten. 
Alice Werner

Frau Lewitscharoff, Ihre Zürcher Poetikvorlesung steht unter dem Titel «Zweifel am Guten, Wahren, Schönen». In der ersten Vorlesung haben Sie über die Schwierigkeiten mit der geoffenbarten biblischen Wahrheit gesprochen. Welche Themen werden Sie in den kommenden zwei Wochen streifen?

In der nächsten Vorlesung widme ich mich dem Helden in der Literatur. Am Beispiel einiger amerikanischer Autoren, etwa Walker Percy und Raymond Chandler, die noch wirkliche Heldengeschichten geschrieben haben, werde ich aufzeigen, wie sich das Gute, das Wahre und Schöne im Lauf der Zeit verändert hat und wie es um den Helden in der Moderne steht. Die Vorlesung in zwei Wochen soll sich dann um literarische Traditionen drehen.

Wenn Sie über Literatur sprechen, nehmen Sie oft Bezug auf biblische Stoffe und Texte.

Ja, weil die Theologie Fragestellungen verhandelt, die für die Literatur hoch spannend sind. Nehmen Sie die Worte Jesu aus dem Markus- und Matthäus-Evangelium «Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?» – dieser schmerzliche Ausruf eines Unschuldigen, eines Opfers, den neben leiblichen und seelischen Leiden noch die Frage quält: Bin ich wirklich Gottes Sohn? Wir finden hier eine der interessantesten «Zweifel-Geschichten» unserer Kultur. Vergessen darf man zudem nicht: Die deutschsprachige Literatur speist sich bis weit ins 18. Jahrhundert hinein aus biblischem Wissen. Man kann sogar sagen: Die literarische Ursprungsmoderne ist von Pfarrerstöchtern und -söhnen gestaltet worden. Insofern sollte sich jeder Literaturwissenschaftler in der Bibel auskennen.

Gut gebrüllt, Löwe! Der König der Tiere spielt in Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman «Blumenberg» die heimliche Hauptrolle.

Dieser Meinung, allerdings unter einem anderen Vorzeichen, war auch George Bernard Shaw. Die Voraussetzungen für einen wirklich freien Geist hat der Dramatiker einmal folgendermassen auf den Punkt gebracht: «Am Beginn jeder grossen Wahrheit steht immer eine Gotteslästerung.»

Das ist mir zu scharf formuliert. Ich halte die Bibel für eine hervorragende zivilisatorische Leistung. Im Vergleich mit archaischen Mythen ist das Alte Testament geradezu subversiv, weil es weltgeschichtlich die erste Schrift ist, die die spirituelle Grausamkeit der Antike unterwandert, das Opferprinzip infrage stellt und den Zirkel aus Gewalt und Vergeltung durchbricht. Daher möchte ich nicht lästern. Aber natürlich kann man sich als moderner Mensch der Bibel nur mit einer guten Portion Ironie nähern. 

An welche biblischen Wahrheiten glauben Sie?

Die zehn Gebote sind ganz fabelhafte Vorschriften, nicht nur für Christen, sondern für die ganze Menschheit – wenn man sie denn etwas freiherziger auslegt und an die Bedingungen und Gegebenheiten des Heute anpasst. Das zehnte Gebot zum Beispiel «Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh oder alles, was sein ist» ist nicht zu toppen: Es beschreibt sehr treffend die Crux der modernen Gesellschaft. Literarisch allerdings ist das alte Testament kein Genuss: karg, parataktisch, von geringer sprachlicher Ästhetik – in seiner offenbarten Aussagekraft dafür umso wirkmächtiger.

Und welchem literarischen Grundsatz folgen Sie?

Das Hauptgebot der Literatur ist für mich die Ambivalenz. Gut und böse, schön und hässlich, edel und elend – all das gehört in einen guten Roman. Reine Grausamkeitsapostel wie Brat Easton Ellis, die ihren zerstörten Figuren keinerlei Rettung in Aussicht stellen, langweilen mich. Mehr noch: Ich empfinde es als ein sehr unchristliches Vorgehen, wenn ein Autor seinen Figuren keine sprachliche Schutzhülle auf den Leib schneidert.

Im Übrigen sollte eine Romanfigur wirklich überraschen. Damit das gelingt, darf, ja muss der Autor ihr allerhand zumuten, auch Unwahrscheinliches und Ungeheuerliches. Gregor Samsa in Kafkas «Verwandlung» zum Beispiel – der steht ja völlig neben der Kappe. Aber Kafka gelingt das Kunststück, innerhalb des irrealen Rahmens Realitätsmöglichkeiten auszuloten. Grossartig!

Was genau gefällt Ihnen nicht an der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur?

Dass der Kitsch heutzutage nicht mehr süss, sondern sauer ist. Fünfzig Prozent meiner Studenten am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, die ich im Rahmen einer Gastdozentur unterrichtet habe, schrieben regelrechte Zerstörungsliteratur. Da sassen wahre Milchgesichter im Kurs, behütet aufgewachsen und leiblich unversehrt, und hatten den starken Drang, in ihren literarischen Arbeiten alles Leibliche zu zerstören. Ich frage mich: Woher kommt nur dieser Trieb? Geht es ihnen etwa zu gut?

Auch wenn ich Ihre Antwort schon ahne: Wer ist Ihr Gott der Literatur?

Franz Kafka, ganz klar. Er ist mein Leib- und Magenautor. Aber ich liebe auch amerikanische Kriminalschriftsteller wie James Ellroy. Seine Romane sind echt scharfer Tobak.