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Sportmedizin

Das Knie der Nation

Die Sensation war perfekt, als Skirennfahrer Pirmin Zurbriggen 1985 trotz einer schweren Knieverletzung Weltmeister in Bormio wurde. Möglich gemacht hatte das Wunder Sportmediziner Bernhard Segesser. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Wissen-schaf(f)t Wissen» des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie (ZIHP) sprachen der Athlet und sein Arzt über das «Knie der Nation» und die Zukunft der Sportmedizin.  
Magdalena Seebauer

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An der Olympiade 1988 in Calgary gewann Pirmin Zurbriggen in der Abfahrt die Goldmedaille, 51 Hundertstelsekunden vor dem zweitplatzierten Peter Müller. Ein Triumph für die Skination Schweiz.

Drei Jahre zuvor beherrschte eine andere Story tagelang die Titelseiten der Presse – die Story vom «Knie der Nation». Und die ging so: Pirmin Zurbriggen geriet in einem Abfahrtsrennen in Kitzbühel nach dem letzten grossen Sprung in eine Bodenwelle. Sein gebeugtes Knie war einer Drehbewegung ausgesetzt. Er spürte einen stechenden Schmerz. Dank seiner guten Muskulatur konnte er zwar unmittelbar korrigieren und gewann den Abfahrtslauf. Doch das linke Bein konnte er nicht mehr strecken. Ein Traum schien geplatzt, denn nur drei Wochen später sollten in Bormio die Weltmeisterschaften stattfinden.

Sportmediziner Bernhard Segesser (l.) und Skirennfahrer Pirmin Zurbriggen: «Kein Sport ist noch viel mehr Mord.»

Minimal-invasive Operation

Da kam Bernhard Segesser ins Spiel. Er hatte Anfang der Achtzigerjahre die Basler Praxisklinik Rennbahn mitbegründet und seither mehrere Aushängeschilder der Schweizer Sportszene medizinisch betreut. Die Operationsmethode der Arthroskopie stand damals noch am Anfang. Segesser entwickelte eine eigene Technik und eigene Instrumente, um schneller und trotzdem minimal-invasiv operieren zu können. Damit waren ein Blick ins Gelenk und die Entfernung des verletzten Meniskus möglich. Der Meniskus sichert als Scheibe zwischen Oberschenkel und Unterschenkel die Bewegung des Kniegelenks, und hier vor allem die Drehbewegung des gebeugten Knies. Kurz nach der Operation wurde wieder mit Bewegung begonnen, nicht ohne zuvor die Belastbarkeit des Knies zu prüfen.

«Ein Drittel des Erfolgs macht die Operation aus, zwei Drittel eine gute Nachbehandlung. Im Fall von Pirmin waren die extrem gute Zusammenarbeit und das Vertrauen zwischen allen Beteiligten für den Erfolg verantwortlich», hält Segesser rückblickend fest. So war das Happy End möglich: Nur drei Wochen nach der Operation nahm Zurbriggen an den Weltmeisterschaften 1985 in Bormio teil – und fuhr zum Sieg. Drei Jahre später wurde er Olympiasieger.

25 Jahre danach

Und wie geht’s seinem Knie heute? «Sensationell, ich spüre nichts. Eher spüre ich das andere Knie, das ich in der Folge unbewusst stärker belastet habe.» Der Rücken mache ihm manchmal Probleme, berichtet Zurbriggen. Der werde beim Skifahren stark beansprucht und viel zu wenig beachtet. Ist dann Sport also doch schädlich? Zurbriggens Antwort: «Alles was man übertreibt, ist schädlich. Dass die Regeneration in der richtigen Phase stattfinden kann, ist entscheidend. Ein guter Trainer ist immer der, der dir sagt, wann du Gas geben musst – und wann dein Körper Erholung braucht.»

Für den Sportmediziner Segesser ist in Abwandlung des bekannten Bonmots klar: «Kein Sport ist noch viel mehr Mord. Wenn man Kinder nicht schon von klein auf zur Bewegung veranlasst, dann hat man verloren.»

Die Verantwortung der Trainer

Aus dem Publikum meldete sich während des Podiumsgesprächs auch der ehemalige Skitrainer Zurbriggens zu Wort, Karl Frehsner, eine Koryphäe des Schweizer Skisports. Vehement appellierte er an das Verantwortungsbewusstsein der Trainer, die mit jungen Sportlern und Sportlerinnen arbeiten: «Jugendliche, die gerade in einem Wachstumsschub sind, müssen unbedingt geschont werden. Ansonsten ist die Gefahr bleibender Schäden, beispielsweise des Rückens, viel zu gross.»

Skisport damals und heute

Heute ist Zurbriggen Hotelier im Wallis und Vater von fünf Kindern, von denen zwei aktiv im Skirennsport dabei sind. Er ist in der Jugendförderung engagiert mit dem Projekt «Schule und Schneesport». Wie geht es ihm dabei, wenn seine Söhne den Berg hinunter rasen? «Das Herz klopft schon höher, besonders weil man ja nicht eingreifen kann. Aber wenn sie siegen, ist die Freude umso grösser.»

Vieles hat sich im Skirennsport seither verändert. Die Sicherheitsstandards sind viel höher. Die Rennläufer tragen Protektoren unter der Kleidung. Damals schlüpfte manch einer sogar ohne Unterwäsche in den Rennanzug, um noch ein bisschen schneller zu sein, erzählt Zurbriggen schmunzelnd. Enorm seien die Fortschritte in der Materialentwicklung. Einmal habe er sich die Ausrüstung von einem seiner Söhne ausgeborgt. Da sei es schon «sensationell um die Ecke gegangen», wo früher noch ein Schlittschuhschritt nötig gewesen sei.

Enorme Belastung des Körpers

«Die Grenze der Reissfestigkeit des menschlichen Gewebes ist erreicht», hält Sportarzt Segesser dagegen. In den letzten Jahren hätte man die Taillierung der Ski sehr weit getrieben. Nicht umsonst sei es bezeichnend, dass fast drei Viertel der Schweizer Nationalmannschaft bereits einen Kreuzbandriss gehabt hätten.

Diese enorme Belastung des Körpers in Kombination mit einer falschen Bewegung im entscheidenden Moment kann verheerende Folgen haben, wie schwere Unfälle im Skisport in der letzten Zeit beweisen. Auch Zurbriggen ist überzeugt, dass er mit dem heutigen Material bei einem Sturz wie 1985 in Kitzbühel einen viel grösseren Schaden davon getragen hätte. Dann hätte die Story des «Knies der Nation» womöglich kein Happy End gehabt.

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