Streiten zum Wohl der Universität
Schwindet an der Universität das fächer- und fakultätsübergreifende Verständnis und kommt das Nachdenken über wissenschaftliche Grundfragen zu kurz? Zehn Thesen des ehemaligen Leiters der Abteilung Forschung und Nachwuchsförderung der Universität Zürich.

über eine Gemeinsprache, so eine der Thesen von Hansueli Rüegger.
- Die Universität
ist keine spannungslose Einheit – weder als Idee noch als Institution.
Sie vereint Gelehrte und Studierende und sie verbindet verschiedene Wissenschaften.
Das Widerspiel der Kräfte ist ihr inhärent.
- Die Spannungen
haben sich vermehrt und verschärft. Wo
es um die Einführung neuer Massnahmen oder die Verteilung
von Ressourcen geht, ist es frappant, wie wenig Verständnis den jeweils anderen
Fachbereichen eingeräumt wird.
- Das idealistische
Bild der Wissenschaft als einer «Einheit und Allheit
der Erkenntnis» hat sich in eine unüberschaubare Vielfalt von Teildisziplinen
auseinanderdividiert.
- Wissenschaften differenzieren sich nicht nur aus, sondern teilen sich auch institutionell. Das ist besonders bedeutsam bei der Entzweiung der philosophischen Fakultät, die ursprünglich auch Mathematik und Naturkunde umfasste. Sie diente einst als Vorbild für die Neubegründung der Universität und war Garant ihrer Einheit.
- Obwohl wir heute nicht
mehr den Anspruch haben, an eine Gesamtheit des Wissens zu denken, müssen wir
uns doch dem Anspruch stellen, unsere Erkenntnisse in einem umfassenden
Zusammenhang zu reflektieren. Nicht mehr
für das Ganze kann die Universität einstehen, aber doch für den Anspruch, das
Partikulare zu überwinden.
- Das Gesetz der
Mitteilung wissenschaftlicher Erkenntnis hat nicht nur innerhalb der Grenzen
eines Fachs oder einer Fakultät Geltung. Eine Verbindung von Fakultäten, die im
Sinne ihrer idealistischen Begründung Universität sein will, muss notwendig
eine dialogische Universität sein.
- Eine Verständigung zwischen den Wissenschaften ist nur möglich
über eine wohlgebildete Gemeinsprache, in welche die
jeweiligen Erkenntnisse unter Wahrung ihrer eigentümlichen Perspektive übersetzt
werden müssen.
- Wir brauchen ein «studium generale» – einen Denkraum, in dem
Studierende und Forschende über grundlegende Strukturen und Funktionen
wissenschaftlichen Denkens reflektieren und aus den verschiedenen Disziplinen
Beispiele wissenschaftlicher Forschung kennenlernen.
- Das Nachdenken über die eigenen Grundlagen bedeutet, sein Denken und Tun
als Theologin oder als Physiologe, als Physikerin oder als Philologe zu
verstehen suchen. Und just indem ich kennenlerne, wie Andere denken und was sie
tun, lerne ich die Eigenart meiner Disziplin kennen und was sie von andern
unterscheidet.
- Wir können nicht mehr Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften in eine Fakultät integrieren. Und wir können nicht mehr die Einheit der Gesamtheit der Wissenschaften postulieren. – Aber wir können versuchen, den universitären Diskurs wiederzugewinnen, der wissenschaftliche Disziplinen in der Nachdenklichkeit zum Dialog führt. Deshalb rufe ich den Fakultäten zu: Sucht den Streit in akademischem Sinn zum Wohl der Universität.