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Weltarmut und Ethik

Was tun angesichts der Weltarmut?

Barbara Bleisch und Prof. Peter Schaber vom Ethik-Zentrum der Universität Zürich haben eine Publikation herausgegeben, die nach unserer Verantwortung hinsichtlich der Weltarmut fragt. unipublic hat sich mit Barbara Bleisch darüber unterhalten.
Adrian Ritter

Hilfe bei extremer Armut - freiwillige Option oder moralisches Gebot? Lebensmittelverteilung in Bangladesch nach der Unwetter-Katastrophe 2007.

unipublic: Die Publikation «Weltarmut und Ethik» geht der Frage nach, ob es eine moralische Pflicht gibt, armen Menschen zu helfen. Darüber scheint kein Konsens zu bestehen?

Bleisch: Es ist nicht nur in der Politik und Gesellschaft, sondern auch unter Ethikerinnen und Ethikern eine umstrittene Frage, ob und inwiefern es eine solche Pflicht zur Hilfe gibt. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass Menschen Moral in erster Linie als eine Sache der näheren Umgebung betrachten. Wenn wir einen verletzten Menschen auf der Strasse liegen sehen, fühlen wir uns direkt angesprochen, ihm zu helfen.

Im Gegensatz zum Hilfebedarf in der näheren Umgebung geht es in Ihrer Publikation um die «Weltarmut». Gemeint ist damit die extreme, existenzbedrohende Armut. Diese Form von Armut ist für uns weiter weg.

Genau, und deshalb empfinden wir auch weniger die moralische Pflicht, zu helfen. Unsere Fähigkeit, uns ins Leiden anderer einzufühlen, ist auf Distanz oft nicht vorhanden. Es fällt uns leichter, uns vorzustellen, selber arbeitslos zu werden, als in einem Slum in Nairobi zu leben.

Wenn wir einen Einzahlungsschein erhalten für die Flüchtlinge in Somalia, fühlen wir uns deshalb moralisch nicht zur Hilfe verpflichtet, sondern betrachten eine Spende als freiwillig. Wenn alle Menschen gleichwertig sind, dürfte die Distanz aus ethischer Sicht jedoch keine Rolle spielen.

Welche ethischen Positionen lassen sich grundsätzlich hinsichtlich der Weltarmut unterscheiden?

Grob gesagt lassen sich vier Positionen unterscheiden. Die erste Position ist der Ansicht, wir schuldeten anderen Menschen nichts. Ob wir helfen wollen, sei eine persönliche Entscheidung, und entsprechend dürfe Hilfe beispielsweise nicht über Steuern zwangsweise finanziert werden. Die zweite Position postuliert, dass eine Pflicht zur Hilfe in extremer Not besteht, wobei sich diese Pflicht beispielsweise mit der Menschenwürde begründen lässt.

Die dritte Position sieht zwar keine Pflicht zur Hilfe, verlangt aber, dass wir zumindest keinen Schaden anrichten. Diese Sichtweise beruht auf der empirischen These, dass die Weltarmut von den Industriestaaten zumindest mitverursacht sei, beispielsweise durch ungerechte Regeln der Weltwirtschaft. Die vierte Position postuliert eine globale Umverteilung, die aufgrund des massiven Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd gefordert sei. Im Blick ist hier eine Art globale soziale Gerechtigkeit.

«Ich sehe die Überwindung der Weltarmut nicht als individuelle Aufgabe, die mit dem Einzahlungsschein zu lösen ist»: Barbara Bleisch, Forschungsassistentin am Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik.

Wie sind diese unterschiedlichen Ansätze zu beurteilen?

Dass wir andere nicht unbegründet schädigen dürfen, ist das unumstrittenste moralische Gebot überhaupt. Insofern scheint die dritte Position aus ethischer Sicht die überzeugendste und konsensfähigste. Allerdings muss diese Position den empirischen Beweis erbringen, dass die reichen Staaten für die Weltarmut mitverantwortlich sind, was umstritten ist. Die zweite Position, die eine Hilfspflicht postuliert, ist ethisch schwieriger zu begründen, bewegt sich dafür ökonomisch auf sicherem Boden, weil sie keine Schädigung nachweisen muss.

Sie und Peter Schaber argumentieren im Buch vor allem mit dieser zweiten Position. Warum?

Wir gehen davon aus, dass bei extremer Armut eine Pflicht zur Hilfe besteht, die sich aus der Menschenwürde ergibt. Ums nackte Überleben kämpfen zu müssen, nicht für sich und die Seinen aufkommen zu können und von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein ist ein Zustand, der dem Menschen unwürdig ist und es ihm unmöglich macht, sich selber zu achten.

Was bedeutet es, wenn die Hilfe an die Ärmsten eine Pflicht ist? Dass wir den Einzahlungsschein nicht mehr nur als Option betrachten dürfen?

Ich sehe die Überwindung der Weltarmut nicht als individuelle Aufgabe, die mit dem Einzahlungsschein zu lösen ist. Es scheint mir wenig sinnvoll, dass wir individuell entscheiden, dem Armutsbetroffenen in Somalia nichts zu spenden, dafür dem Opfer des Tsunami. Die Überwindung der Weltarmut ist eine gemeinsame Pflicht aller Wohlhabenden, die letztlich nur mit entsprechenden Institutionen und politischen Instrumenten zu lösen ist und die allen Armutsbetroffenen gleichermassen helfen muss.

Ist das nicht eine Überforderung?

Es gibt Berechnungen, die besagen, dass jeder Bewohner eines Industrielandes nicht mehr als einen Franken pro Tag abgeben müsste, um die extreme Armut zu beseitigen. Wir sprechen also nicht von gigantischen Summen, die aufgewendet werden müssten.

Wie könnte die Finanzierung aussehen?

Meiner Ansicht nach müsste die Entwicklungshilfe über eine Sondersteuer finanziert werden. Man kann das vergleichen mit der Sozialhilfe, die auch über Steuern finanziert wird und in der Schweiz ein Abrutschen in extreme Armut verhindert. Es gibt keinen Grund, dies im Falle der Weltarmut nicht ähnlich zu organisieren.

Die in der politischen Diskussion oft geforderten und von den meisten Ländern in Aussicht gestellten 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für die Entwicklungs- zusammenarbeit würden die Weltarmut schon deutlich verringern. Allerdings investieren die meisten Staaten heute weitaus weniger, die Schweiz sogar weniger als 0,4 Prozent.

Entwicklungshilfe und Entwicklungszusammenarbeit werden bisweilen als nutzlos oder gar schädlich kritisiert.

Es ist eine Tatsache, dass die Gelder bisweilen in korrupten Staatskassen versickern oder erreichte Verbesserungen durch Kriege wieder zunichte gemacht werden. Das ist aber kein Grund, die Entwicklungszusammenarbeit abzuschaffen. Wir müssen nach Möglichkeiten suchen, es in Zukunft besser zu machen, wozu nicht zuletzt Forschung nötig ist. Im Übrigen können wir auch als Konsumentinnen und Konsumenten einen Beitrag leisten. Denn Produkte aus fairem Handel zu kaufen ist vermutlich ohnehin die effizienteste Art der Entwicklungs- zusammenarbeit.