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Sie untersuchen die Narben des Kriegs in Bosnien, den täglichen Kampf ums Überleben auf Kuba oder die Anwendung tibetischer Medizin in Sibirien: Wenn Ethnologen zur Lizenziatsarbeit schreiten, sind das keine Archivstudien, sondern ausgedehnte und abenteuerliche Auslandaufenthalte mit ungewissem Ausgang und hohem persönlichem Einsatz. Beispielsweise Tommi Mendel: Neun Monate Feldaufenthalt, 1400 Kilometer Fussmarsch, das sind die imposanten Eckdaten seiner Abschlussarbeit. In Japan heftete er sich an die Fersen von Pilgern auf dem buddhistischen 88-Tempelweg und analysierte die Motivation, Wünsche und Hoffnungen der Reisenden.
Doch Mendel verfasste keine herkömmliche Lizenziatsarbeit. Er reichte einen 73-minütigen Dokumentarfilm ein («Arukihenro – Walking Pilgrims», 2006). Noch vor einigen Jahren wäre dies undenkbar gewesen – zu tief sass die Ikonophobie in den Wissenschaften. Das verbalfundamentalistische Dogma erstmals aufgeweicht hat Professor Michael Oppitz. Er verankerte die Visuelle Anthropologie als Teilgebiet am Ethnologischen Seminar. Seither besteht die Möglichkeit, Film als eigenständiges wissenschaftliches Ausdrucksmittel zu nutzen. Sprich: Visuelle Studien – ergänzt um einen Textband – als Abschlussarbeit einzureichen, «sofern ein klarer Forschungsansatz erkennbar ist».
Immer mehr Studierende machen seither von dieser aussergewöhnlichen Darstellungsform Gebrauch. Dabei hatte das neue Medium am Ethnologischen Seminar einen unglücklichen, wenn auch überaus brisanten Start: Eine Gruppe Studierender unter Leitung von Heinz Nigg filmte 1980 den Opernhauskrawall, den Auftakt zu den Zürcher Jugendunruhen. Wegen der Unverhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes verursachte der Videofilm einen riesigen Wirbel. Der Konflikt endete mit der Beschlagnahmung der Originalbänder durch die Zürcher Staatsanwaltschaft und der Aussetzung sämtlicher filmischer Aktivitäten an der Universität Zürich – bis zur Berufung von Michael Oppitz.
Der erste Film, der akademische Weihen erlangte, war «Made in Hong Kong» (1997) von Luc Schaedler. Seine ethnografische Momentaufnahme der Kronkolonie kurz vor ihrer Rückgabe an China schlug auch ein ausseruniversitäres Publikum in Bann. Der Film wurde an Festivals von Solothurn über Leipzig bis nach Südkorea eingeladen. Und er hatte die Wirkung eines Fanals auf jüngere Studierende: «Made in Hong Kong führte uns vor Augen, was möglich war», meint Matthias Stickel. Zusammen mit Eva Schär drehte er fünf Monate lang auf Kuba. Ihre 85-minütige Produktion zeigt, wie sich die Menschen mit Einfallsreichtum und Galgenhumor durchs Leben schlagen, und schaffte es bis an die Solothurner Filmtage («Cuando no hay una solución ...», 2003).
Andere Produktionen entwickelten sich zu regelrechten Publikums- und Kritikerlieblingen. Luc Schaedlers «Angry Monk» (2005) verzauberte die Filmaficionados am renommierten Sundance-Festival. Und Mehdi Sahebis «Zeit des Abschieds» (2006) gewann in Locarno die «Semaine de la critique» und heimste in Belfort den Jury- und Publikumspreis ein. Die wenigsten Zuschauer dürften jedoch gewusst haben, dass es sich dabei um universitäre Abschlussarbeiten handelt. Die Filmreihe «Regard Bleu» holt dies nun ins Bewusstsein – mit einer vollständigen Werkschau von Lizenziats- und Dissertationsprojekten der letzten zehn Jahre.
Diese Erfolge sind umso bemerkenswerter, weil das Völkerkundemuseum den Studierenden weder mit Praxiskursen noch mit finanzieller Unterstützung beisteht. Es wird von ihnen erwartet, dass sie die notwendigen Fertigkeiten in der Herstellung von Bildern mitbringen – so, wie die Beherrschung der Grammatik auch für die Textarbeit Voraussetzung ist. Matthias Stickel etwa holte sich das Rüstzeug während eines Filmseminars in Berlin, ausserdem hatte er den GAF-Fotolehrgang absolviert – viel Aufwand für ein Lizenziat. Was nur treibt die Studierenden an, gleichwohl zur Kamera zu greifen?
Für Gian-Reto Gredig war Video schlicht das einzig angemessene Medium. Er begleitete den Fotografen Goran Galić auf seinen Reisen quer durch Bosnien und filmte dessen zermürbende Suche nach gültigen Bildern über das Kriegserbe («Put mira»,2006). Die Mehrschichtigkeit von Gredigs Projekt – Bestandesaufnahme des kriegsversehrten Bosnien und Reflexion über die Darstellbarkeit der Realität mittels Fotografie – findet erst dank der Informationsdichte visueller Medien entsprechend Ausdruck. Auch für Tommi Mendel stand fest, dass sich seine Studie über das japanische Pilgerwesen nur visuell umsetzen lassen würde. «Gestik, Musik, Landschaft, all dem lässt sich mit Sprache allein nicht gerecht werden.»
Wie aber steht es um den Wert der neuen Medien für die Wissenschaft? Michael Oppitz attestiert ihnen einen hohen Nutzen. Visuelle Dokumente seien zentrale Quellen für die Forschung, indem sie Anschauungsmaterial über verschwindende Kulturen bewahrten – visuelle Dauerpräparate für nachfolgende Forschergenerationen.
Ausserdem kondensierten sie Information in einmaliger Dichte, weil sie die verschiedenen Schichten einer Szene simultan wiedergeben. «Bilder sind den Dingen, die sie abbilden, näher als Worte, die sie umschreiben», so Oppitz. Er selbst hielt in seinem 223-minütigen Dokumentarfilm «Schamanen im blinden Land» (1980) in vorher unbekannter Exaktheit die Arbeitsweise lokaler Heiler in Nepal fest.
Ob das kleine Filmwunder am Völkerkundemuseum der Universität Zürich anhalten wird, ist jedoch ungewiss. Mit der Emeritierung von Michael Oppitz im November geht der Universität ein grosser Förderer, Liebhaber und Lehrer des ethnografischen Films verloren. Der «Regard Bleu» ist daher mehr als eine Werkschau: Er ist eine Hommage an das jahrelange engagierte und leidenschaftliche Wirken dieses Mannes.