Navigation auf uzh.ch
Der Roman «Der Junge» erzählt die Geschichte von Werni, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Bern aufwächst. Seine Mutter ist mit ihrer Arbeit bei Schoggi Tobler, dem Haushalt und der Erziehung der Kinder stark belastet, der Vater ist häufig abwesend. Die Behörden sorgen sich, dass der 14-jährige Werni wie sein älterer Bruder «verwahrlost». Sie greifen ein, platzieren den Jungen im zürcherischen Erziehungsheim Sonnenhof. Weit weg von seiner Familie und den scheinbar schädlichen Einflüssen der Stadt soll sich Werni auf eine Berufslehre vorbereiten.
Der Roman nimmt Forschungsergebnisse aus dem SNF-Projekt «Grammatik der stationären Erziehung» auf und verarbeitet sie in einer fiktionalen Geschichte. Michèle Hofmann berichtet im Interview, wie sie und ihre drei Mitautor:innen Daniel Deplazes, Jona T. Garz, Nives Haymoz – alles Erziehungswissenschaftler:innen – das Buch gemeinsam geschrieben haben.
Alle vier Autor:innen sind Wissenschaftler:innen. Wie kamen Sie auf die Idee, einen Roman zu schreiben?
Michèle Hofmann: Das Buchprojekt ist eingebettet in ein Nationales Forschungsprogramm zum Thema Fürsorge und Zwang. Am Beispiel des Landerziehungsheims Albisbrunn im Kanton Zürich untersuchten wir am Institut für Erziehungswissenschaft der UZH von 2018 bis 2023 die Praktiken, Organisation und Kontexte der Heimerziehung im 20. Jahrhundert. Schon zu Beginn des Projekts hatte Mitautor Daniel Deplazes die Idee, einen Roman über das Thema zu schreiben. Damit wollen wir die Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen, es ist ein Stück Wissenschaftskommunikation.
Wie stark fiktional ist der Roman? Gibt es historische Quellen, die wörtlich wiedergegeben werden?
Es gibt keine Passage, die wir eins zu eins aus den Quellen entnommen haben. Auch die Protagonist:innen sind nicht historische Figuren. Sie sind aber nahe an die Quellen angelehnt. Das Erziehungsheim Sonnenhof gab es nicht, es ähnelt aber realen Heimen. Der Roman ist eine fiktionale Geschichte, die so hätte passieren können. Wir wählten im Staatsarchiv Zürich rund 30 «Zöglingsdossiers» aus den 1930er-Jahren aus. Das sind Akten über Kinder oder Jugendliche, die in einem Heim fremdplatziert wurden. Daraus haben wir unsere Geschichte und unsere Figuren entwickelt. Da alle vier Autor:innen zu dem Thema geforscht hatten, waren wir nahe dran.
Mit dem Roman wollen wir Forschungsergebnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.
Bei den realen Fremdplatzierungen sind zum Teil schlimme Dinge geschehen. Haben Sie sich überlegt, wie dramatisch Sie die Geschichte gestalten?
Darüber haben wir sehr intensiv diskutiert. Wir wissen aus der Forschung und aus den Berichten von Betroffenen, dass es viele schreckliche Schicksale gegeben hat, mit Missbrauch und Gewalt. Auf der anderen Seite gab es Kinder, denen es in den Heimen und Pflegefamilien gut ging. Wir haben versucht, einen Mittelweg zu finden. Es war uns wichtig, die Ambivalenzen zu zeigen: Gerade die Figuren auf Behördenseite steckten einerseits in Zwängen fest, auf der anderen Seite hatten sie einen gewissen Handlungsspielraum.
Können Sie ein Beispiel nennen für historische Gegebenheiten, die im Roman auch auftauchen?
Typisch ist zum Beispiel, dass die Behörden die Eltern der Kinder mit mehr oder weniger Druck dazu gebracht haben, der Fremdplatzierung zuzustimmen. Das war aus Sicht der Behörden wohl der gangbarste Weg – sonst hätten sie die Entziehung der elterlichen Sorge beantragen müssen. Historisch begründet ist auch, dass die Kinder in teils weit entfernte Heime gebracht wurden. So wie unsere Romanfigur Werni, der in Bern zu Hause war, aber in einem Heim im Kanton Zürich platziert wurde. Man achtete nicht auf geografische Nähe, sondern einfach darauf, wo ein Platz frei war.
Wie wichtig waren es Ihnen, dass auch Details historisch akkurat sind?
Das war uns sehr wichtig. Wir haben beispielsweise einigen Aufwand betrieben, um herauszufinden, an welcher Adresse das Jugendamt in Bern domiziliert war. Ein anderes Beispiel: Wir haben uns gefragt, ob die Fürsorgerin morgens im Büro einen Kaffee trinken würde. Wie war das in den 1920er-Jahren? Weil wir es nicht herausfinden konnten, wird der Fürsorgerin von der Amtsekretärin Tee angeboten.
Wie schreibt man einen Roman zu viert?
Diese Frage wird uns immer wieder gestellt. Vier Autor:innen für einen Roman, das ist ungewöhlich. Wir hatten schon zuvor für wissenschaftliche Publikationen kooperiert und wussten, dass wir gut zusammenarbeiten können. Zudem konnten wir die Schreibarbeit aufteilen, weil das Buch aus vier Kapiteln mit vier Perspektiven besteht. Jedes Kapitel ist aus der Sicht eines anderen Protagonisten oder einer anderen Protagonistin geschrieben: eine Fürsorgerin, die Mutter, ein Heimerzieher und ein Jugendsekretär. So konnten wir auch unsere unterschiedlichen Schreibstile bewusst als Stilmittel einsetzen, um die verschiedenen Akteur:innenperspektiven darzustellen.
Sie haben also alle einzeln am Buch geschrieben?
An den einzelnen Kapiteln schon, aber wir haben uns intensiv abgesprochen und die Geschichte zusammen entwickelt. Ausserdem mussten wir darauf achten, dass die Chronologie und die Logik des Romans stimmen. Es gibt Szenen, die aus der Sicht von zwei Personen erzählt werden, da galt es, Widersprüche zu vermeiden.
Sie schreiben in der Regel wissenschaftliche und keine literarischen Texte. Gibt es grosse Unterschiede? Wie sind Sie damit umgegangen?
Wir wurden in diesem Prozess unterstützt von Urs Hardegger, der selbst Romanautor ist, und von Melanie Gerber, der Verlagslektorin. Wir mussten lernen, uns stärker in das Innenleben der Figuren zu versetzen, als es beim wissenschaftlichen Schreiben der Fall ist. Wichtig war auch, szenischer zu schreiben, damit für die Leser:innen Bilder entstehen: Wie sieht es zum Beispiel in der Wohnung von Wernis Familie aus? Welche Möbel stehen da, was machen die Figuren? Auch Dialoge zu schreiben, war neu für uns.