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Geteiltes Leid ist halbes Leid, sagt der Volksmund, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten seit Sigmund Freud geben ihm weitgehend recht: Das Reden spielt eine zentrale Rolle bei der Bewältigung von psychischen Krankheiten. Wir erleben es als hilfreich oder gar heilsam, Ängste und Sorgen mit anderen zu teilen. So überrascht es denn auch wenig, dass das Sprechen über psychische Krisen und das Benennen von schwierigen Gefühlen auch immer häufiger in Kampagnen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge thematisiert werden.
«Leicht ist dieses Darüberreden aber nicht», sagt Yvonne Ilg, Sprachwissenschaftlerin am Deutschen Seminar der UZH. Natürlich trügen Gespräche über psychische Erkrankung bestenfalls dazu bei, Themen wie Schizophrenie oder Depression zu enttabuisieren und Betroffene in die Gesellschaft zu integrieren. Ausserhalb eines therapeutischen Kontexts falle das Reden darüber dennoch häufig schwer. In einer Klinik etwa seien solche Gespräche klar vom Setting vorgegeben. «Das ist etwas ganz anderes als der Austausch mit einer Nachbarin oder dem Arbeitgeber, die vielleicht weder Erfahrung noch einen Bezug zum Thema haben.»
«Die meisten Betroffenen wollen über ihre Erkrankung reden», sagt auch Anke Maatz, Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. «Aber nicht mit jedem und auch nicht pauschal über alles.» Eine differenzierte Betrachtung der Empfehlung also, mehr über psychische Probleme zu sprechen: Dieses Anliegen habe den Anstoss gegeben, sich dem Thema forschend zu nähern – nicht nur aus linguistischer und psychiatrischer Sicht, sondern auch aus der Erfahrungsperspektive (siehe Kasten). Denn zur Leitung des interdisziplinären Forschungsprojekts «Drüber reden! Aber wie?» gehört neben Ilg und Maatz auch die selbständig tätige Deutschlehrerin und «Expertin aus Erfahrung» Henrike Wiemer. Wiemer hat Germanistik und Psychologie studiert und lebt seit ihrer Jugend mit paranoider Schizophrenie.
Schwer machen das Sprechen über psychische Erkrankungen nicht nur die eigene Scham und die nicht selten berechtigte Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung. Viele erleben es auch sprachlich als herausfordernd, das Erlebte in Worte zu fassen und anderen zu vermitteln, was ihnen ja selbst fremd und subjektiv erscheint. Solchen Schwierigkeiten zum Trotz sind Ilg, Wiemer und Maatz überzeugt, dass vielfältige kommunikative Strategien existieren, um über psychische Erkrankungen zu reden. Um solche Ressourcen ausfindig und zugänglich zu machen, haben sie in den vergangenen Jahren zahlreiche Gespräche mit psychisch erkrankten Menschen und deren Angehörigen, Freunden und Arbeitgebenden geführt und mit verschiedenen qualitativen Methoden analysiert.
Obwohl die drei Forscherinnen dabei natürlich auch der Inhalt interessiert, konzentrieren sie sich in ihren Untersuchungen vor allem auf das Wie der Gespräche: Wie organisieren sich die Gesprächsteilnehmerinnen und Gesprächsteilnehmer in den Interviews und Fokusgruppengesprächen? Wo wird mitten im Satz oder im Wort neu angesetzt oder reformuliert? Wie veranschaulichen die Menschen ihre Erfahrungen, welche Beispiele und Bilder nutzen sie? Wann wird gelacht, wann geschwiegen? Die Konversationsanalyse beschreibt, wie Menschen sich austauschen, ohne die verschiedenen Gesprächshandlungen als gut oder schlecht zu kategorisieren. Der Methode liegt die Haltung zugrunde, dass der Mensch grundsätzlich kompetent kommuniziert, sei es verbal, para- oder nonverbal, wie Ilg sagt. «Dieser ressourcenorientierte Ansatz ist uns sehr wichtig.»
Anhand von Gesprächspausen und Gesprächsabbrüchen zeigt sich beispielhaft, was das bedeutet: Diese werden oft als Defizit verstanden, als Zeichen, dass eine Erfahrung sprachlich gar nicht zu vermitteln oder die Kommunikation mangelhaft sei. Aus konversationsanalytischer Sicht erfüllen sie dagegen sehr wohl eine Funktion: Gerade das Ringen um Worte inszeniere ja ein Gefühl von Unfassbarkeit und Unbeschreibbarkeit, schreiben Maatz, Wiemer und Ilg in einem Beitrag zur kommunikativen Darstellung von Wahn. Das Erlebte könne so sehr wohl für andere ein Stück weit erfahrbar gemacht werden.
Strategien, um im Alltag über psychische Erkrankungen zu sprechen, müssten also nicht erst erfunden werden. «Vielmehr geht es darum, vorhandene Kompetenzen zu identifizieren und sichtbar zu machen», betont Ilg. Zu diesen gehörten neben Gesprächspausen auch Situationsbeispiele, Humor oder Metaphern. So beschreibt Wiemer in einem Fachbeitrag anschaulich, wie ihre Gedanken in Momenten des Wahns in einzelne Teile zu zerfallen scheinen und wie sich ihr Gehirn einem Gefäss gleich mit solchen Gedankenbruchstücken anfüllt, sodass nichts anderes mehr Platz darin findet.
Ihre Ergebnisse wollen die Forscherinnen sowohl in die klinische Versorgung einbringen als auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen. Sie hoffen, damit nicht nur die Behandlung von psychisch Erkrankten zu verbessern, sondern auch die soziale Inklusion von Betroffenen zu fördern. Unter anderem ist deshalb eine Art Werkzeugkasten auf der Projektwebsite geplant, wie Ilg es nennt. «Nicht etwa als normative Empfehlung, wie man über psychische Probleme zu reden hat, sondern einfach als Ermutigung und Anregung», stellt die Linguistin klar. «Wir möchten die Ängste vor solchen Gesprächen mindern.»
Die gesammelten Gesprächsdaten sollen dereinst in die Datenbank DIPEx des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der UZH einfliessen. Die Plattform bündelt Erfahrungsberichte aus verschiedenen Gesundheitsbereichen wie Demenz, Schwangerschaft und Pränataldiagnostik oder eben psychische Gesundheit, die von Betroffenen und Interessierten abgerufen und eingesehen werden können.
«Drüber reden! Aber wie?» ist auf dem Nährboden eines anderen SNF-Forschungsprojekts enstanden. Ilg untersuchte für ihre Dissertation die Rezeption und den Bedeutungswandel des Schizophreniebegriffs im 20. Jahrhundert, Maatz beschäftigte sich als Postdoktorandin mit dem Thema. «Ich bin damals zufällig und aus persönlichem Interesse auf das Projekt gestossen und habe mich nach Möglichkeiten zur Mitarbeit erkundigt», erzählt Wiemer. Gemeinsam entwickelten die drei die Idee des interdisziplinären und partizipativen Projekts, das sie nun seit gut vier Jahren leiten. Wie sich der partizipative Ansatz auf die Forschung auswirkt, zeigt sich zum Beispiel an den Gesprächen mit den psychisch erkrankten Personen. «Wenn Henrike die Interviews führt oder Gesprächsrunden leitet, erzählen die Betroffenen ganz anders, als wenn sie mit mir sprechen», stellt Ilg fest. Die gewonnenen Daten würden auf diese Weise inhaltlich wie formal diverser. «Diese zusätzliche Sichtweise ist ein grosser Erkenntnisgewinn.»
Der Einbezug von «Expertinnen und Experten aus Erfahrung» beschränkt sich aber nicht nur auf die Projektleitung: Die drei Forscherinnen haben von Anfang an stets alle Gesprächsteilnehmenden dazu eingeladen, das Datenmaterial mit ihnen auszuwerten und gemeinsam über die mögliche Verwendung der Ergebnisse nachzudenken. «Das bringt natürlich auch Herausforderungen mit sich», räumt Maatz ein. Während sie als Projektleitung ein eingespieltes Dreierteam seien, gelte es beim Einbezug so vieler weiterer Mitforschender immer wieder abzuwägen: «Wie viel geben wir an akademischen Methoden und intendiertem Output vor? Wo braucht es Freiräume, um das akademische Format zu sprengen – und wo überfordern diese?» Nicht immer sei die höchste Partizipationsstufe auch die beste. «Es können nicht vierzig Leute zusammen über jeden Projektschritt befinden.»
Man wolle Räume und Formate ausserhalb des akademisch Üblichen finden, aber eben auch akademische Forschung betreiben, fasst die Ärztin die Suche nach der Balance zusammen. Vieles sei dabei auch einfach ein Ausprobieren. Denn der partizipative Forschungsansatz ist sowohl in der Sprachwissenschaft als auch in der Psychiatrie noch neu, zumindest im deutschsprachigen Raum.
Wesentliches Element der Partizipation ist nicht zuletzt, dass auch der Forschungsprozess selbst Teil der beabsichtigten Wirkung ist. Dem Ziel also, neue Gesprächsräume zu eröffnen und zur besseren Inklusion von psychisch Erkrankten in die Gesellschaft beizutragen, hoffen die Forscherinnen auch schon durch ihre Arbeitsweise näherzukommen. Schliesslich wird das Reden über psychische Schwierigkeiten im Projekt ja nicht nur erforscht, sondern eben auch praktiziert.