Heinrich B. ist schwer krank. Seine Diagnose: schwarzer Hautkrebs. Der 41-jährige Buchhalter hat bereits multiple Ableger in der Haut, als 2017 nach einer Computertomografie Metastasen in der Lunge festgestellt werden. Dank einer Immuntherapie mit Antikörpern kann er Hoffnung schöpfen. Doch dann kommt der Rückfall mit neuen Metastasen. Der aktive Radfahrer leidet sehr unter seiner körperlichen Schwäche. Eine erneute Chemotherapie und eine Immuntherapie zeigen keinen Erfolg. Sein Arzt weiss keinen Rat mehr, für Heinrich B. gibt es keine weiteren Therapieoptionen. Im Medizinerjargon gilt er als «austherapiert».
Der schwarze Hautkrebs, auch Melanom genannt, ist die bösartigste Form aller Hautkrebserkrankungen und die fünfthäufigste Krebsart in der Schweiz. Pro Jahr erkranken daran etwa 3000 Menschen, Männer und Frauen sind gleich betroffen. Auch Sabine M. hatte ein metastasierendes Melanom. Lange bleibt es bei der 62-jährigen Lehrerin unentdeckt, so kann der Krebs in tiefere Hautschichten hineinwachsen, sich über Blut- und Lymphbahnen im Körper ausbreiten und Ableger bilden. In solchen Fällen ist eine Behandlung schwierig. Die Krankheit setzt ihr so zu, dass die engagierte Deutschlehrerin ihre Klasse nicht mehr bis zur Matura betreuen kann. Zu ihrer Freundin sagte sie: «Ich bin voll ausmetastasiert.» Den Begriff hat sie sich ausgedacht, er zeigt ihre Verzweiflung.
Heinrich B. und Sabine M. haben beide die Diagnose Hautkrebs. Doch jeder Krebs ist anders. Klassischerweise wurden Krebserkrankungen immer nach ihrem Ursprungsorgan benannt, also zum Beispiel Haut-, Brust- oder Darmkrebs. «Mittlerweile weiss man, dass es sich nicht nur um eine veraltete, sondern auch um eine nicht ganz richtige Sicht der Dinge handelt», sagt Andreas Wicki, UZH-Professor für Onkologie, Leitender Arzt und stellvertretender Direktor der Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie am Universitätsspital Zürich. So können Tumoren, die in verschiedenen Organen entstehen, biologisch ähnlicher sein als Tumorarten aus dem gleichen Organ. Gegenwärtig sind etwa 200 verschiedene Krebserkrankungen bekannt. In den vergangenen Jahren gelang es, für viele von ihnen Erbgutveränderungen zu identifizieren, die spezifisch für Tumoren sind. Selbst innerhalb eines Patienten kann es zu Unterschieden kommen. «Metastasen unterscheiden sich dann genetisch vom Primärtumor», erklärt Wicki.
Molekular betrachtet ist jede Krebserkrankung also einmalig und durch die Kombination ihrer Mutationen charakterisiert. Wenn diese Unterschiede bei der Behandlung berücksichtigt werden, können Therapien ausgeschlossen werden, die nur Nebenwirkungen und keinen medizinischen Nutzen haben. Umgekehrt sinkt das Risiko, dass eine vielversprechende Therapie nicht eingesetzt wird.
Für Sabine M. und Heinrich B. eröffnete sich eine neue Chance, als sie vor drei Jahren von einer Studie des «Tumor Profiler»-Projekts erfuhren. Das Team des Tumor-Profilers analysiere den Krebs jedes einzelnen Patienten bis auf Zell- und Molekülebene, so lautete das Versprechen. Dank diesen Analysen sollten aussichtsreiche Therapievorschläge innerhalb kurzer Zeit zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten gelangen. Das könnte auch für austherapierte Patientinnen und Patienten wie Sabine M. und Heinrich B neue Therapiemöglichkeiten eröffnen. Beide Krebskranken entscheiden sich, an der Studie unter der Leitung von Andreas Wicki teilzunehmen, die mit 240 Patientinnen und Patienten startet. 95 von ihnen leiden an metastasierendem schwarzem Hautkrebs, andere an metastasierendem Eierstockkrebs oder an akuter myeloischer Leukämie.
Den Teilnehmenden der Studie wie Heinrich B. und Sabine M. werden bei einer Biopsie Proben entnommen. Die empfindlichen Zellen müssen danach in kürzester Zeit auf sieben am Projekt beteiligte Laboratorien verteilt werden (siehe Kasten). Über hundert Forschende haben dann etwa zwei Wochen Zeit, die Biopsieproben auszuwerten. Logistisch ist das eine grosse Herausforderung. Denn jedes der beteiligten sieben Fachlabore fokussiert sich auf eine spezielle Methode. Untersucht werden unter anderem DNA, RNA und die Proteine der Krebszellen und die Zellen des Immunsystems. «Neu und revolutionär an unserem Ansatz sind die Kombination der Analyseverfahren sowie die Pipeline der Datenverarbeitung», sagt Wicki.
So gelangen Proben von Heinrich B. und Sabine M. ins Labor von Lucas Pelkmans, Professor für Molekularbiologie an der UZH. Er führt In-vitro-Medikamententests durch. In der Schweiz gibt es etwa 180 von Swissmedic zugelassene Krebsmedikamente, rund 60 davon werden regelmässig bei Krebsbehandlungen eingesetzt. Die Forschenden arbeiten mit bekannten Medikamenten oder mit einem neuen Medikamentenmix und testen ex vivo, wie die Tumorzellen der Krebskranken auf sie reagieren. Es geht darum, zu verstehen, welche Prozesse in der Zelle von welchen Medikamenten beeinflusst werden und ob bestimmte Medikamente, die zuvor für die jeweilige Krebsart nicht eingesetzt wurden, bei der jeweiligen Probe wirken. So entstehen neue Behandlungsmöglichkeiten. Ein Ergebnis ist, dass es in bestimmten Fällen besser sein kann, Medikamente einzusetzen, die für andere Krebsarten zugelassen sind, als mit der Standardtherapie zu arbeiten.
In einem weiteren Labor analysiert UZH-Professor Bernd Bodenmiller mit seinem Team die Gewebeschnitte von Heinrich B. und Sabine M. «Wir haben eine einzigartige Methode entwickelt, mit der wir Dutzende von Biomarkern gleichzeitig im Gewebe visualisieren können», sagt Bodenmiller, Direktor des Instituts für Quantitative Biomedizin an der UZH und Professor im Departement Biologie der ETH Zürich. «Wir schauen uns die Immunzellen und die Tumorzellen an und sehen, wie sie räumlich agieren und potenziell kommunizieren.» Dank der Biomarker erhalten die Forschenden ein Bild vom Zustand des Tumors. «Wir erkennen die Komponenten eines Tumors und wie diese zusammenspielen. Dies ermöglicht uns, dessen Funktion mit Medikamenten zielgerichtet zu stören.»
Am Ende der Kette stehen der «Leonhard Med Secure Scientific Platform Service» sowie die «Nexus Personalized Health Technologies» der ETH Zürich. Hier werden die Daten der sieben Laboratorien zusammengetragen und mit Hilfe von Datenexpertinnen und -experten und Algorithmen analysiert. Die Datenwissenschaftler der ETH bereiten die Daten für das interdisziplinäre Tumorboard auf. Danach entscheiden die behandelnden Onkologinnen und Onkologen zusammen mit den Betroffenen über die neue Therapie. «Wir haben einen Prozess entwickelt, der die Krebsmedizin weiterbringt und den Patientinnen und Patienten dient», bilanziert Mitch Levesque, UZH-Professor für Experimentelle Hautkrebsforschung, einer der an der Studie beteiligten Forschenden.
Die Arbeit des Tumor-Profiler-Teams hilft auch Heinrich B. und Sabine M. Einige Wochen nach der Biopsie erhält Heinrich B. eine neue Immuntherapie, die sich aus der Analyse der Laboratorien ergeben hat. Im Laufe der nächsten Monate schrumpft sein Tumor. Wie auch bei Sabine M. Sie erhält eine neue Immuntherapie in Kombination mit einem Kinasehemmer. Das sind Arzneimittel, die spezifische Enzyme binden und ihre Funktion hemmen.
Für einen Teil der Patientinnen und Patienten der Studie mit Melanom konnten die Forschenden eine überraschend positive Bilanz ziehen: «Einem Drittel der so genannt austherapierten Krebskranken konnten wir mit einem individuell abgestimmten Medikamentenmix mit der Tumor-Profiler-Analyse helfen. Ihre Tumoren schrumpften», resümiert Andreas Wicki. «Bei über der Hälfte der Teilnehmenden konnte das Tumorwachstum zumindest stabilisiert werden.» Eine Erfolgsgeschichte – Heinrich B. und Sabine M. jedenfalls sind glücklich. Heinrich B. kann wieder ausdauernd Rad fahren und Sabine W. unterrichtet wieder an ihrer Schule, allerdings mit reduziertem Pensum.