Digitale Religionen

Beten mit Alexa

Gottähnliche künstliche Intelligenz und Spiritualität online: Die digitale Technologie verändert heute Religion und Glauben. Und das religiöse Denken beeinflusst, wie wir neue Technologien wahrnehmen.
Roger Nickl
Kann seine Metallarme heben und Menschen in verschiedenen Sprachen segnen: Der Priesterroboter «Bless-U2», hier in der Ausstellung «Planet Digital» der UZH und des Museums für Gestaltung.

 

Im Digitalzeitalter verändert sich nicht nur die Art und Weise, wie wir uns informieren und wie wir miteinander kommunizieren, sondern auch, wie und was wir glauben. «Religion und Technologie waren schon immer eng miteinander verknüpft», sagt Assistenzprofessorin Beth Singler, die am Universitären Forschungsschwerpunkt «Digital Religion(s)», das Verhältnis von künstlicher Intelligenz (KI) und Religion untersucht. Wie eng verzahnt Religion und Technik sind, zeigte sich schon vor 500 Jahren: Damals beflügelte die Erfindung des Buchdrucks die Reformation und ermöglichte, dass sich der neue Glaube schnell verbreitete. Damals gingen die Menschen auch noch fleissig in die Kirche, um das Wort Gottes zu hören, das der Pfarrer von der Kanzel predigte.

Das hat sich im 20. und 21. Jahrhundert geändert. Seit Jahrzehnten leeren sich die Kirchen zusehends. Immer weniger Gläubige pilgern am Sonntag zum Gottesdienst. Diese Entwicklung scheint der Säkularisierungsthese recht zu geben. Sie wird von Religionssoziologinnen und -soziologen vertreten und besagt, dass Glaube und Religion in der modernen, hoch technologisierten Welt immer mehr an Bedeutung verlieren. Dem widerspricht Sabrina Müller. Die Theologin und Religionsforscherin ist Geschäftsführerin von «Digital Religion(s)» und untersucht religiöse Bewegungen und Innovationen in der Kirche.

Gebets-Apps und spirituelle Podcasts

«Menschen glauben heute nicht weniger», ist Müller überzeugt, «das Bedürfnis nach Spiritualität nimmt nicht ab, es wird aber pluraler und diverser.» Und es wird individueller. Viele bauen sich ihre religiöse Identität nach eigenen Vorlieben zusammen. Und sie tun das immer mehr online. Zwar ist der gesellschaftliche Trend zur Individualisierung von Lebensentwürfen und Weltbildern schon länger zu beobachten und setzt weit vor der Digitalisierung ein, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts an Fahrt aufgenommen hat. Die Onlinemedien haben ihn aber weiter beschleunigt. Das betrifft auch Glaubensfragen und den Umgang mit Religion und Spiritualität.

Online gibt es mittlerweile eine breite Palette von spirituellen und religiösen Angeboten. Von Gebets-Apps aller Konfessionen über spirituelle Podcasts bis zu Websites, die neben Achtsamkeitsübungen, Anleitungen zu Meditation und Yoga auch Predigten aller Art bieten. Die App Insight Timer etwa ist ein solcher spiritueller Online-Gemischtwarenladen. Blogs, Videos und Podcasts findet man aber auch beim Reflab, hinter dem die Reformierte Kirche des Kanton Zürich seht. «Digitale Medien eröffnen ganze neue Möglichkeiten, sich inspirieren zu lassen», sagt Sabrina Müller, «ich kenne viele Menschen, die sich von überall Ideen und Glaubensinhalte nehmen und sich keiner bestimmten Religion mehr zuordnen würden.» In den USA, wo die Theologin eine Zeit lang geforscht hat, könne man heute problemlos und glaubwürdig sagen: «I’m a christian-buddhist-moslem.»

Der Glaube steht im digitalen Zeitalter nicht mehr felsenfest und in Stein gemeisselt, sondern er ist fluid geworden. «Vielen geht es nicht mehr um absolute Wahrheiten», sagt Müller, «sondern darum, was einem gerade hier und jetzt wichtig ist und was einem guttut.» Und das können eben Yogaübungen sein, aber auch aufmunternde Worte und inspirierende Gedanken.

Religiöse Sinnfluencerinnen

Letztere werden online von religiösen Sinnfluencerinnen verbreitet. «Sinnfluencerinnen sind Influencerinnen, die Sinn generieren», sagt Müller, die das Phänomen untersucht. Mit regelmässigen Video-Blogs und Posts in den sozialen Medien erreichen sie ein wachsendes, vor allem auch jüngeres Publikum. So schart etwa die deutsche Pfarrerin Josefine Teske mit seligkeitsdingen.de eine Community von über 40000 Followerinnen und Followern um sich. Erfolgreich sind auch Ellen und Steffi. In ihrem viel genutzten Video-Blog «Anders amen» beschäftigt sich das lesbische Paar auf unterhaltsame Weise mit Lebens- und Glaubensangelegenheiten. Angestellt sind die beiden Frauen von der Evangelisch-lutherischen Landeskirche als (Digital-)Pastorinnen.

In ihren Videos diskutiert das Paar über Beziehungsthemen wie Treue, Scheidung und Sexualität genauso wie über Reichtum oder die Fussball-WM in Katar. Zuweilen wird geturnt oder Ostern gefeiert. Die beiden Pastorinnen verbinden dabei alles mit ihrem eigenen Leben, das macht sie nahbar und authentisch. Und sie sprechen immer wieder Tabuthemen an, etwa künstliche Befruchtung oder queere Familien mit Kindern. «In solchen Formaten entsteht ganz viel neue Theologie, die die Menschen auch hören, und das mit einer grossen Reichweite», sagt Sabrina Müller. Zum Beispiel hätten Themen der feministischen Theologie in den Hochschulen nie Fuss gefasst, in den sozialen Medien würden sie nun aber intensiv besprochen.

So beleben und erweitern die digitalen Medien Glaubensfragen und die Diskussion religiöser Inhalte. Während in Deutschland die Landeskirchen auf die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen relativ schnell reagiert haben und bereits verschiedene religiöse Online-Angebote machen oder eben digitale Pfarrämter eingerichtet haben, gibt es in der Schweiz erst wenige Initiativen wie etwa reflab.ch. «Die Kirchen sollten den App-Markt nicht verschlafen», sagt deshalb Sabrina Müller. Denn die Arbeit an neuen, attraktiven Digitalformaten sei zwar eine Herausforderung, damit verbunden ist aber die Chance, mehr und insbesondere auch jüngere Menschen zu erreichen.

Roboter als Priester

Auch die Church of England ist heute digital unterwegs. Neuer ist ein Angebot der Kirche, das auf virtuelle Sprachassistenten setzt. So können Gläubige etwa mit Alexa Skills, einer für die Kirche massgeschneiderten intelligenten Software, beten. Die smarte App gibt aber auch Auskunft über Glaubensfragen aller Art und zu kirchlichen Aktivitäten und Veranstaltungen. So ersetzt die KI-unterstützte Software zwar nicht den lieben Gott, aber in gewissen Momenten doch den Pfarrer oder die Pfarrerin. «Künstliche Intelligenz tangiert heute die meisten unserer Lebensbereiche», sagt Beth Singler, «Glaube und Religion sind da keine Ausnahme.» Die aus England stammende Digital-Anthropologin erforscht, wie die neuesten Entwicklungen in Digitaltechnologie und künstlicher Intelligenz Glauben und religiöse Praxis beeinflussen.

Eines der in dieser Hinsicht wohl kuriosesten und umstrittensten Phänomene der letzten Zeit sind Roboterpriester, wie etwa der Segensroboter «BlessU-2». Gebaut wurde er anlässlich des deutschen Reformationsjubiläums 2017. Vor zwei Jahren stand «BlessU-2» eine Zeit lang in der Stadtkirche Winterthur. Die Maschine mit dem kindlichen Roboterkopf und dem in der Blechbrust integrierten Computerdisplay kann ihre Metallarme heben und Menschen in verschiedenen Sprachen segnen. Wie segensreich «BlessU-2» allerdings für die Kirche ist, war auch in Winterthur äusserst umstritten. Während einige Besucherinnen und Besucher der Begegnung mit dem Roboterpriester durchaus etwas abgewinnen konnten (laut Studien eine Mehrheit von 60 Prozent), fanden andere die Aktion einfach nur geschmacklos und infantil.

Mittlerweile kommen religiöse Roboter wie «BlessU-2» weltweit an verschiedenen Orten zum Einsatz: So segnete und predigte der katholische Roboter «Santo» während der Corona-Pandemie in polnischen Kirchen. Und im japanischen Kyoto leitet heute noch sein buddhistischer Kollege «Mindar» religiöse Zeremonien – auch dort fallen die Reaktionen der Tempelbesucherinnen und -besucher gegensätzlich aus. «Auf der einen Seite faszinieren uns animierte, sprechende Maschinen, auf der anderen Seite sind sie auch etwas unheimlich», sagt Beth Singler. Interessant an der Diskussion rund um Robotertechnik und künstliche Intelligenz findet die Forscherin, dass sie uns zu existenziellen Fragen führt. «Wenn es uns künftig gelingt, immer intelligentere Maschinen zu bauen, stellt sich damit auch immer drängender die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein beziehungsweise was menschlich ist und was eben nicht», sagt Singler.

Das sind Themen, über die sich Religionen schon seit Tausenden Jahren Gedanken machen. Deshalb sind sie auch gefragt, wenn es um ethische Fragen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz geht. Tatsächlich reagieren die Religionen auch auf die Veränderungen in der Gesellschaft, die die Digitalisierung mit sich bringt. So haben Vertreter von Judentum, Islam und Katholischer Kirche Anfang dieses Jahres in Rom einen gemeinsamen Appell zur Ethik der künstlichen Intelligenz unterzeichnet, der einen gerechten, nicht-diskriminierenden Umgang mit der digitalen Technologie fordert. Konkret kritisiert wurde etwa, dass Asylanträge aus Effizienzgründen teilweise mit KI-unterstützter Software bearbeitet würden, weil damit die Entscheidung über das Schicksal eines Menschen einem Algorithmus anvertraut wird.

Gesegnet vom Algorithmus

Algorithmen als Schicksalsmächte: Beth Singler hat in ihrer Forschung festgestellt, dass Menschen den smarten Programmen manchmal schon fast göttliche Qualitäten zuschreiben. So ist ihr bei der Analyse von Posts in den sozialen Medien immer wieder die Formulierung «I’m blessed by the algorithm», «Ich bin vom Algorithmus gesegnet worden», aufgefallen. Geäussert wurde sie oft von Beschäftigten der so genannten Gig-Ökonomie. Von Uber-Fahrerinnen und Food-Kurieren, die sich vermittelt von Onlineplattformen von Auftrag zu Auftrag hangeln. Waren sie in einer Woche besonders erfolgreich, schrieben sie das dem Algorithmus zu, der sie quasi auserwählt und eben gesegnet habe.

Die digitale Technik, lässt sich daraus schliessen, beeinflusst also nicht nur Glauben und Religion, sondern umgekehrt die religiöse Sprache und das religiöse Denken und auch, wie wir die digitale Technologie wahrnehmen. «Manche Leute sprechen über künstliche Intelligenz und digitale Technologie, als ob sie etwas Gott-Ähnliches wäre», sagt Beth Singler. Allen voran die Transhumanisten – eine heterogene philosophische Bewegung, deren Mitglieder davon träumen, dass der Mensch künftig mit der Technik verschmilzt und dadurch eine neue Stufe in der Evolutionsgeschichte erklimmt. Ein Grossteil der Transhumanistinnen und Transhumanisten haben der Religion abgeschworen. Dafür glauben sie nun felsenfest an die Allmacht der Technik.

Und so belebt auch 500 Jahre nach der Gutenberg-Revolution die technologische Innovation das religiöse Denken, den Glauben und den Austausch von Ideen. Und die Digitalisierung beschleunigt das Entstehen und Vergehen von religiösen Bewegungen jeglicher Couleur – in den sozialen Medien treten täglich neue Gruppierungen auf, während andere wieder verschwinden. Das sei wie bei Gasblasen auf einem Teich, die aufploppen und wieder zerplatzen, sagt Beth Singler. Angesichts dieser enormen Dynamik und Diversität sei die religiöse Bildung – etwa in der Schule oder im Konfirmationsunterricht – wichtig, um im Dschungel der religiösen Ideen, die auch ins Obskure gehen können, durchzublicken, sagt Sabrina Müller – damit Menschen selbstbestimmt und vernünftig wählen können, was sie glauben und was nicht.