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Cancel-Culture

Moralische Panik

Ist der Diskurs um Cancel-Culture ein neues Phänomen? Dieser Frage ging der Stanford-Professor Adrian Daub im Rahmen der UZH-Veranstaltungsreihe «Wer darf bei uns reden?» nach. Die Angst vor der Cancel-Culture sei eine alte Angst in neuem Gewand, sagte er.
Marita Fuchs

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Adrian Daub
Cancel-Culture betreibt unter anderem Identitätspolitik, statt sich mit strukturellen Ursachen von Ungleichheit auseinanderzusetzen, so Adrian Daub in der Aula der UZH.

Darf man «verrückt» noch vorbehaltlos sagen? Im Tages-Anzeiger war im Mai 2023 zu lesen, dass an der Elite-Universität Stanford eine Liste «schädlicher Wörter» publiziert worden sei, die auf den universitätseigenen Webseiten unbedingt zu vermeiden seien, weil sie rassistisch, sexistisch oder verletzend seien. So zum Beispiel das Wort «crazy», denn es trivialisiere das Leid psychisch kranker Menschen.

Cancel-Culture – kein aktuelles Zeitphänomen

Der Artikel im Tages-Anzeiger sei ein typisches Beispiel für ein Krisennarrativ, sagte Stanford-Professor Adrian Daub in seinem Vortrag in der Aula der UZH vor zahlreich erschienenem Publikum am vergangenen Mittwoch. Solche Aufreger-Texte würden davon leben, dass sie konsequent eine Verbindung zwischen Anekdote und System aufbauten, ohne diese wirklich zu untermauern.

In vielen Artikeln und Büchern werde die Cancel-Culture als aktuelles Zeitphänomen dargestellt, sagte Daub. Die Rede sei von «heute», «in den letzten Jahren», «jetzt». Anders der Philosoph Julian Nida-Rümelin, dieser sehe die Anfänge bereits bei Sokrates. Und so sieht es auch Daub: Das Canceln sei Teil unserer Kulturgeschichte und kein Phänomen der jüngsten Vergangenheit. Alles, was im Rahmen der gegenwärtigen Cancel-Culture-Debatte als neu und bedrohlich beschrieben werde, habe es schon früher gegeben.

Unterschiedliche Beschreibungen

Der Begriff der Cancel-Culture sei seit 2018 in der breiten Öffentlichkeit präsent, er sei aber verschwommen und werde unterschiedlich beschrieben, sagte Daub. Mal als Krisennarrativ, mal als partikularisierend, sprich: ausgehend von bestimmten Gruppen oder Akteuren. Häufig werde die Cancel-Culture vor dem Hintergrund kulturalistischer Argumentationen thematisiert, die sich auf Identitätspolitik und symbolische Gesten stützen, statt sich mit den strukturellen Ursachen von Ungleichheit und Diskriminierung auseinanderzusetzen, analysierte Daub.

«Wie viele Texte, die vor Cancel-Culture warnen und gleichzeitig konstruktive Vorschläge anbieten, kennen Sie?», fragte er rhetorisch ins Publikum. Daub selbst hat nachgezählt: Von den 2100 Artikeln, die in deutschsprachigen einsehbaren Tageszeitungen im Jahr 2021 veröffentlicht wurden und den Begriff der Cancel-Culture enthalten, habe kein einziger das Wort Kündigungsschutz enthalten – obwohl die Cancel-Culture zum Teil Kündigungen zur Folge habe.

Diskurstransfer von den USA nach Europa

Ein weiterer Aspekt der Beschreibung von Cancel-Culture sei der Diskurstransfer, erklärte Daub. Unter Diskurstransfer versteht er die Übertragung von Begriffen, Konzepten und Argumentationsmustern aus einem gesellschaftlichen Kontext in einen anderen – unter Vernachlässigung der historischen und kulturellen Unterschiede. Daub kritisierte, dass die Cancel-Culture oft einen Diskurstransfer von den USA nach Europa oder Deutschland vollziehe, ohne die regionalspezifischen Gegebenheiten und Problemlagen zu beachten.

Der Fokus auf amerikanische Eliteunis und auf akademische Freiheit sei gerade im deutschsprachigen Raum fest etabliert. Das sei nicht überall so. In der Türkei zum Beispiel werde Cancel-Culture mit Politiker:innen, Sportler:innen oder Prominenten in der Verbindung gebracht, nicht mit Universitäten.

Einfluss der Sponsoren

Bedroht die Cancel-Culture die akademischen Freiheit? Daubs Antwort: «Es kommt darauf an, was man unter akademischer Freiheit versteht.» Sorgen über eine Einschränkung der Redefreiheit, so Daub, hätten in den USA lange Tradition. Konservative Stiftungen spielten dabei eine wichtige Rolle. Einschlägige Bücher wie Allan Blooms Buch «The Closing of the American Mind» (1951) wurden von ihnen finanziert, Opfer der «Political Correctness» seien von ihnen erst prominent gemacht worden. Die Debatte über die Meinungsfreiheit an Universitäten sei auch von den Interessen der Sponsoren beeinflusst, dessen müsse man sich bewusst sein, sagte Daub. In seinem 2022 bei Suhrkamp erschienenen und kontrovers diskutierten Buch «Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst», hat er diese Haltung begründet.