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Zukunft der Demokratie

Megacities als Chance

Eine Mehrheit der Weltbevölkerung lebt schon heute in Städten. Insbesondere Millionenstädte sind von Problemen wie Armut und Kriminalität besonders betroffen. Gleichzeitig bieten «Megacities» aber auch einmalige politische Gelegenheiten, diese Probleme demokratisch zu lösen. Ein Essay von UZH-Politikwissenschaftler Daniel Kübler.
Daniel Kübler

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Grosse Herausforderungen, grosse Chancen: Megacities – im Bild Karachi – profitieren von Demokratisierung und Dezentralisierung.

Seit Anfang 2008 leben auf der Erde mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Bis 2050 werden gemäss Schätzungen zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten wohnen. Im Laufe des 21. Jahrhunderts wird die Menschheit zu einer städtischen Spezies werden. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Die Verstädterung des Planeten und die steigende Anzahl Megacities bringen viele Probleme mit sich. Aber sie bieten auch neue Chancen, nicht zuletzt für die Demokratisierung und die Weiterentwicklung der Demokratie.

Die politikwissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass die Urbanisierung eines Landes eine gute Voraussetzung für die Stabilität einer demokratischen Ordnung ist. Es macht also Sinn zu fragen, ob und wie die zunehmende Verstädterung im 21. Jahrhundert die Demokratie beeinflussen wird.

Zäsur in der Geschichte

Die Megacities – definiert als Städte mit einer Bevölkerung von mehr als zehn Millionen – stellen eine Zäsur in der Geschichte der Menschheit dar. Noch nie waren Städte so gross. Gemäss Berechnungen der UNO gab es im Jahr 2010 weltweit 23 Megacities, bis 2025 werden weitere 14 dazukommen. Megacities sind das Ergebnis einer neuen Völkerwanderung, ausgelöst durch Modernisierung, Liberalisierung und Globalisierung. Bis zum Ende des 21. Jahrhunderts werden auch die ärmeren Länder so urbanisiert sein wie heute die Industrieländer.

Global gesehen ist das Leben in der Stadt besser. Armut, Hunger und Kindersterblichkeit sind in Städten weniger verbreitet als auf dem Land. Die Einkommen sind höher, es gibt medizinische Versorgung und Bildung. Warum? Weil im städtischen Umfeld offenbar die Bereitstellung von öffentlichen Gütern – das heisst Dienstleistungen und Infrastruktur, die der Allgemeinheit zur Verfügung stehen – besser funktioniert: zum Beispiel im Bereich des Gesundheitssystems, der Schulen, der Wasserversorgung oder des öffentlichen Verkehrs.

Als relevant erachtet

Diese öffentlichen Güter fallen aber nicht einfach vom Himmel. Sie sind das Endprodukt eines langen politischen Prozesses. In Megacities gelten dafür spezielle Rahmenbedingungen. Das gewaltige Bevölkerungswachstum birgt enorme Probleme – von permanent verstopften Strassen bis zu Armut, Perspektivenlosigkeit und Kriminalität. Das schiere Ausmass solcher Probleme in den Megacities erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass diese Probleme von der Allgemeinheit als relevant erkannt und entsprechende öffentliche Güter zur Lösung bereitgestellt werden.

In demokratischen Ländern gibt das Wahlrecht unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern von Megacities einen wichtigen Hebel in die Hand. Stadtregierungen werden abgewählt, wenn sie sich als unfähig – oder unwillig – erweisen, urbane Probleme effektiv anzugehen. Also werden sie sich Mühe geben.

Chongqing, China: Das chinesische Ministerium für Stadtentwicklung prognostiziert, dass bis 2025 zusätzliche 300 Millionen Bürger in die Städte ziehen werden.

Einfachere Mobilisierung

Die Verhältnisse in Megacities bieten ausserdem günstige Rahmenbedingungen für eine politische Mobilisierung ausserhalb der repräsentativen Institutionen. Sozialen Bewegungen fällt es in grossen Städten leichter, Menschen für ihre Anliegen zu aktivieren. Die Konzentration von Menschen auf engem Raum vereinfacht die Kommunikation, und die Zahl der Anhänger ist grösser. Dies ist in Nichtdemokratien besonders bedeutsam – es galt bereits in der Französischen Revolution beim Sturm auf die Bastille.

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bilden heute ein feines Geflecht stabiler zivilgesellschaftlicher Strukturen und tragen zum besseren Funktionieren der demokratischen Institutionen und letztlich zur Stabilisierung beispielsweise der lateinamerikanischen Demokratien bei – besonders in Brasilien und Mexiko.

Auf engstem Raum

Die lokalen NGOs waren auch ein wichtiger Baustein einer seit etwa Mitte der 1980er-Jahre weltweit zu beobachtenden Tendenz zur Dezentralisierung staatlicher Macht. Nicht nur in Europa und Nordamerika, auch in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern wurden Kompetenzen und Ressourcen vom Nationalstaat auf die unteren Staatsebenen übertragen.

Besonders für die Behörden der grossen Städte veränderte sich damit die Situation dramatisch. Dank der Dezentralisierung verfügten sie nun über mehr Handlungsspielraum. Gleichzeitig stieg aber auch der Druck der zivilgesellschaftlichen Akteure auf diese Behörden, die Vielzahl urbaner Probleme tatsächlich auch anzupacken.

Mit der Dezentralisierung ist die politische Auseinandersetzung über die Bereitstellung öffentlicher Güter zur Lösung gesellschaftlicher Probleme definitiv in der Stadt angekommen – ebenso wie die Organisation dieser Güter. In vielen Ländern wurden die lokalen Behörden nicht nur mit Kompetenzen und Finanzen ausgestattet, sondern auch mit neuen demokratischen Elementen: der Direktwahl der Bürgermeister etwa oder neuen direktdemokratischen Verfahren wie partizipativen Budgetprozessen.

Bedürfnisse artikulieren

Dank demokratischer Verfahren können zivilgesellschaftliche Akteure ihre Bedürfnisse und Ansprüche gegenüber den städtischen Behörden besser artikulieren. Und dank der Dezentralisierung verfügen die Behörden wiederum über mehr Mittel und bessere Möglichkeiten, auf diese Bedürfnisse tatsächlich einzugehen. Dies wiederum sichert ihnen die Unterstützung der Wähler und stärkt deren Vertrauen in das Funktionieren demokratischer Prozesse.

Dezentralisierung und Demokratisierung gehen somit Hand in Hand und stabilisieren sich gegenseitig. Vor allem die Megacities haben enorm von dieser Entwicklung profitiert. So haben nicht nur die verfügbaren Ressourcen zugenommen, sondern auch der politische Handlungsspielraum ist grösser geworden.

Grenzen liegen quer

Eine Herausforderung für die Leistungsfähigkeit der Demokratie in den Megacities ergibt sich allerdings aus der zunehmenden Inkongruenz zwischen räumlicher Ausdehnung und institutioneller Gliederung. Megacities bedecken riesige Flächen. Die Ausdehnung des grossstädtischen Siedlungsraums hat an Gemeindegrenzen nicht haltgemacht. Diese liegen zunehmend quer in der Stadtlandschaft.

Daraus ergeben sich Schwierigkeiten für das staatliche Handeln, etwa bei der Koordination von Dienstleistungen für den Siedlungsraum als Ganzes oder für die Verteilung von Steuermitteln zwischen reichen und armen Gemeinden. Je höher die Anzahl der Gemeinden in einem Metropolitanraum ist, desto grösser sind diese Schwierigkeiten. Sie sind ein Dauerbrenner der Politikwissenschaft.

Megacities fördern die Bildung von zivilgesellschaftlichen Strukturen, mit denen Menschen sich gegenseitig bei der Lösung ihrer alltäglichen Probleme helfen. Sie bieten grosse Herausforderungen, aber auch grosse Chancen für die Verbreitung und Stabilisierung von Demokratie.

Insgesamt ist die Entwicklung in den Megacities der Welt bisher sicher positiv zu werten, weil gerade die grossen Städte von der Kombination von Demokratisierung und Dezentralisierung stark profitierten.