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6. Aarauer Demokratietage

Gemeinden – bedrohte Schulen der Demokratie

Die Gemeinden in der Schweiz kämpfen mit einem sinkenden Interesse an politischer Partizipation. Die Wahlbeteiligung ist tief und Kandidierende für den Gemeinderat finden sich kaum noch. Was sich dagegen tun lässt, war Ende März Thema der 6. Aarauer Demokratietage.
Adrian Ritter

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Podium mit Polit-Praktikern (von links): Professor Daniel Kübler, Regierungsrat Urs Hofmann, Moderator Patrik Müller, Renate Gautschy, Präsidentin Gemeindeammänner-Vereinigung Aargau und Kurt Fluri, Stadtpräsident Solothurn. (Bild: ZDA/Beni Basler)

Der Gemeindeammann von Wachseldorf im Kanton Bern bewies Galgenhumor. Als im vergangenen Juni nur einer von 230 Einwohnern an der Gemeindeversammlung erschien, äusserte er gegenüber den Medien, das habe die Abläufe vereinfacht, man habe keinen Stimmenzähler bestimmen müssen.

Wachseldorf mag ein aussergewöhnliches Beispiel sein, steht aber für eine allgemein feststellbare Krise der Demokratie in der Gemeinde: Die Beteiligung an Wahlen und Gemeindeversammlungen sinkt und es wird immer schwieriger, Kandidatinnen und Kandidaten für die Exekutive zu finden.

Verlieren die Gemeinden ihre Funktion als «Schule der Demokratie», wie es der französische Politiker Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert formulierte? Dieser Frage und möglichen Wegen zu mehr Partizipation widmete das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), zu dessen Trägerschaft auch die Universität Zürich gehört, vergangene Woche die 6. Aarauer Demokratietage.

Sinkende Beteiligung

Noch vor zehn Jahren standen die Leistungsfähigkeit der Gemeinden und Verwaltungsreformen unter dem Stichwort «New Public Management» im Vordergrund, sagte Daniel Kübler, UZH-Professor für Politikwissenschaft, ZDA-Direktor und Hauptreferent der Aarauer Demokratietage: «Heute stehen hingegen Probleme der Demokratie im Fokus.»

Seinen Befund erläuterte er am Beispiel einer laufenden Studie: Die Wahlbeteiligung in den bisher untersuchten Gemeinden des Kantons Aargau ist seit den 1970er Jahren deutlich gesunken und hat sich in den 1990er Jahren auf dem tiefen Niveau von ungefähr 30 bis 40 Prozent stabilisiert. Besonders stark abgenommen hat die Wahlbeteiligung in kleinen Gemeinden mit einem starken Bevölkerungswachstum – die Neuzuzüger beteiligen sich wenig an den lokalen Wahlen. Was den Besuch von Gemeindeversammlungen betrifft, lassen sich gemäss einer ZDA-Studie im Kanton Zürich noch durchschnittlich fünf Prozent der Stimmberechtigten davon anlocken.

Bürde ohne Würde?

Gleichzeitig haben in kaum einem anderen Staat proportional so viele Bürger ein Exekutivamt inne – rund 40'000 Personen sind es in der Schweiz. Zwei Drittel aller Gemeinden in der Schweiz haben heute aber Probleme, genügend Kandidierende zu finden. Im Extremfall spitzen sich die Probleme wie im Falle der Gemeinde Bauen im Kanton Uri zu. Dort wurden 2009 drei Bürger aufgrund des Amtszwangs in den Gemeinderat gewählt. Sie zogen es vor, in die Nachbargemeinde zu ziehen, um ihr Amt nicht antreten zu müssen.

Daniel Kübler: «Die Gemeinde ist immer noch eine gute Schule der Demokratie.» (Bild: ZDA/Beni Basler)

Die Gründe für die Rekrutierungsprobleme sind unter anderem darin zu suchen, dass die Aufgabenlast gewachsen, das Ansehen der Ämter aber gesunken ist: Die Amtsträger sind mit einer steigenden Anspruchshaltung der Bürgerinnen und Bürger sowie bisweilen hart auf die Person zielender Kritik der Medien konfrontiert, führte Kübler aus.

Lokalparteien in der Krise

Die Gemeinden begegnen dem abnehmenden politischen Interesse gemäss Daniel Kübler auf unterschiedliche Art. Kinderbetreuung, Einkaufsgutscheine und Tanzeinlagen sollen die Gemeindeversammlung attraktiver machen. Um die Arbeitsbelastung zu verringern, versuchen die Gemeinden, ihre Exekutive von operativen Aufgaben zu entlasten, bisweilen mit der Anstellung eigentlicher Gemeindemanager.

Angemessene Entschädigungen für Gemeinderäte und eine Reduktion der Arbeitsbelastung sind für Daniel Kübler notwendig, aber nicht hinreichend. Die Probleme seien auch eine Folge der Krise der Lokalparteien. Diese hätten in den letzten Jahren eine dramatische Erosion erfahren: Sie verlieren an Mitgliedern und sind in immer mehr Gemeinden gar nicht mehr präsent.

Entsprechend sei in den letzten Jahren eine starke Zunahme von parteilosen Kandidatinnen und Kandidaten zu verzeichnen. Das ist gemäss Kübler an sich kein Problem. Der Bedeutungsverlust der Lokalparteien sei aber fatal für das Milizsystem, weil die Parteien die Rekrutierung des politischen Nachwuchses auf lokaler, kantonaler wie nationaler Ebene übernehmen. Es müsse deshalb dringend diskutiert werden, wie die Gemeinden ihre politischen Parteien unterstützen können, so Kübler.

Nicht nur Sachpolitik

Um bei den Bürgerinnen und Bürgern mehr Interesse für die politische Arbeit zu wecken, empfahl Kübler, Lokalpolitik nicht nur als Sachpolitik zu verstehen: «Die grösseren Zusammenhänge und politischen Kontroversen hinter sachlichen Themen sollten auch auf Gemeindeebene diskutiert werden. Ein neuer Fussgängerstreifen kann Anlass sein, über Verkehrspolitik zu debattieren. Das macht die politische Arbeit attraktiver.»

Eine tiefe Beteiligungsrate allerdings ist gemäss Kübler aus demokratietheoretischer Sicht nicht zwingend problematisch. Dies zeige sich daran, dass gegen Entscheidungen an Gemeindeversammlungen selten das Referendum ergriffen werde. Die entscheidende Frage, die sich eine Gemeinde stellen müsse, sei: Kann die Meinungsvielfalt an der Gemeindeversammlung und an der Urne zum Ausdruck kommen? Oder sind gewisse Meinungen systematisch untervertreten, etwa weil es an einer respektvollen Diskussionskultur fehlt?

Das Feuer neu entfachen

Dass auch attraktive Lokalpolitik in einem angenehmen Diskussionsklima nicht verhindern kann, dass ein politisches Engagement in der Gemeinde oft am Zeitaufwand scheitert, wurde beim anschliessenden Podiumsgespräch mit Daniel Kübler, Renate Gautschy (Präsidentin Gemeindeammänner-Vereinigung Aargau), Urs Hofmann (Regierungsrat Aargau) und Kurt Fluri (Stadtpräsident Solothurn) deutlich. Die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und politischem Amt sei oft kaum zu schaffen, berichteten die Polit-Praktiker. Besonders tragisch sei, wenn Kandidatinnen und Kandidaten über die wirkliche Arbeitsbelastung im Unklaren gelassen werden und entsprechend schnell wieder zurücktreten.

Politik unter freiem Himmel: Mit neuen Formen der Gemeindeversammlung das Interesse steigern.

Trotzdem gelte es, das Feuer für die Politik und die einzigartigen Möglichkeiten der Mitbestimmung in der Schweiz wieder zu entfachen, äusserten sich Votanten aus dem Publikum. Renate Gautschy erwiderte, der Verband der Gemeindeammänner setze dabei auch bei der Ausbildung der Gemeindebehörden an. Gut ausgebildete Exekutivbehörden können entscheidend dazu beitragen, dass an der Gemeindeversammlungen eine gute Gesprächskultur herrsche, stimmte Hofmann zu. Gleichzeitig sei bereits in der Volksschule politische Bildung nötig, um das Interesse zu wecken.

Innovationen mit beschränkter Reichweite

An der wissenschaftlichen Tagung am zweiten Tag der Aarauer Demokratietage wurden in drei Workshops Problemfelder wie Partizipation, Gemeindefusionen und die Umwälzung der demokratischen Aufsicht über das Schulwesen vertieft diskutiert.

Daniel Kübler berichtete, wie auch in der Schweiz die Gemeinden mit neuen Beteiligungsformen wie Zukunftswerkstätten und Diskussionsforen experimentieren, um die Partizipation der Bevölkerung zu erhöhen. Eine ZDA-Studie hat gezeigt, dass solche demokratischen Innovationen hauptsächlich in Gemeinden zum Einsatz kommen, in denen der Bürgersinn ohnehin schon stark ausgeprägt ist. Zudem nähmen oft dieselben Personen teil, die auch an der Gemeindeversammlung anwesend sind. Das Ziel, zusätzliche Bevölkerungskreise anzusprechen, werde somit nicht erreicht.  

Fusionen als Bruch

Zusätzliche Herausforderungen für die Demokratie auf lokaler Ebene ergeben sich durch Gemeindefusionen. Allein von 2010 bis 2014 fanden schweizweit über 100 Zusammenschlüsse statt, oft aus der Not der Verschuldung.

Dass eine Fusion die Effizienz erhöhen und zu finanziellen Einsparungen führen kann, dieser Hoffnung erteilte Christoph Schaltegger, Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft und Finanzrecht der Universität St. Gallen, eine Absage. Studien zeigten keine solche Effekte: «Finanzpolitisch können Fusionen nicht legitimiert werden.»

Umso besorgniserregender, wenn auch auf der politischen Ebene negative Auswirkungen feststellbar sind: Die beiden ZDA-Politikwissenschaftler Philippe Koch und Andreas Rohner zeigten in einer Studie auf, dass im Kanton Tessin die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene nach Gemeindefusionen überdurchschnittlich stark gesunken ist. «Fusionen führen zu einem Bruch im politischen System und Leben einer Gemeinde», so Koch. Der Effekt sei insbesondere in kleinen Gemeinden gross und dürfte auch in anderen Kantonen vorhanden sein, so Koch. Er vermutet, dass die Bürger sich mit fusionierten Gemeinden weniger identifizieren können und ihrer Stimme im grösseren Gebilde weniger Gewicht beimessen.

«Spricht aus demokratietheoretischer Sicht überhaupt etwas für Fusionen?», fragte Daniel Kübler in einem der Workshops. In Einzelfällen mögen Fusionen Sinn machen, war in der Diskussion zu hören, weil die Gemeinden dadurch mehr politisches Gewicht gegenüber dem Kanton erhalten. Zudem können Fusionen die demokratische Legitimation von Entscheidungen erhöhen, falls diese den Weg zurück aus bisweilen undemokratisch organisierten Regional- und Zweckverbänden in kommunale Parlamente oder an die Urne finden.

Die leeren Schulbänke

Es bestehe Handlungsbedarf, was das politische Leben in den Gemeinden anbelange, schloss Daniel Kübler die Aarauer Demokratietage. Lösungsansätze seien vorhanden und müssten in den Gemeinden diskutiert werden. Es lohne sich, denn die Gemeinden in der Schweiz böten umfangreiche Möglichkeiten zur politischen Beteiligung: «Die Gemeinde ist immer noch eine gute Schule der Demokratie, auch wenn ihre Schulzimmer immer öfter leer bleiben.»