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Herr Geser, Sie wurden 1947 geboren. Was zeichnet Ihre Generation im Vergleich zu früheren oder späteren aus?
Für heutige Zeitgenossen liegt unser Geburtsjahr fast unvorstellbar weit zurück: in einem Jahr, in dem zwei technische Erfindungen ihren Ursprung hatten, ohne die wir uns die moderne Welt gar nicht mehr vorstellen könnten, nämlich der Transistor und die Kalaschnikow.
Die Paradoxie liegt darin, dass wir in einem Rahmen friedlich-geordneter, ja biedermeierlich verengter Sozialverhältnisse eine Epoche immensen Wirtschaftswachstums und sozio-technischen Wandels miterlebt haben, der seit den späten 60er Jahren immer mehr in kulturellen Wandel überging. Psychologisch war damit eine Stimmung grundlegender Geborgenheit und Zuversicht verbunden, die mich persönlich damals motivierte, ohne berufliche Zukunftsängste das damals neueste und abenteuerlichste Studienfach: die Soziologie zu wählen.
Ich durfte dann das wohl nie wiederkehrende goldene Zeitalter der Sozialwissenschaft erleben: eine Art «Aufklärung 2.0», wo in Buchläden viele Regallaufmeter mit farbigen Suhrkamp-Bändchen und anderen Publikationen aus unseren Fachbereichen vollgestellt waren, und wo man Hoffnung haben konnte, beim damaligen kühnen Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen wissenschaftliche Rationalität einbringen zu können.
Diese intellektuelle Zuversicht ist heute verflogen: einerseits, weil in der Politik emotionale und romantisch-ideologische Orientierungen vorherrschend sind («Energiewende»); anderseits, weil es meist nur darum geht, definitiv ausdifferenzierte, aber wenig adaptive Institutionen vor dem Zusammenbrechen zu bewahren (EU, Sozialversicherungen etc.).
Sie entschieden sich für eine Karriere an der Universität. Was war Ihre prägendste Erfahrung an der UZH?
Mich hat immer beeindruckt, wie konsequent sich Verwaltung, Fakultät und Universitätsleitung den grössten Teil meiner Amtszeit als Dienstleistungsorgane für die Institute und Lehrstühle verstanden haben: mit dem Zweck, auf diesen unteren Ebenen, wo alles Wichtige geschieht, optimale Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Als Erkenntnis seit den 80er Jahren möchte ich heutigen Amtsträgern gern in Erinnerung rufen, dass es über Raum- und Prüfungskoordination hinaus nur ganz wenige Verwaltungsämter, Stabsstellen und Reglemente braucht, um in den Einzelbereichen optimale Lehr- und Forschungsbedingungen zu schaffen.
Die Universitätsangehörigen sollten angesichts der zahlreichen Reorganisations-, Reglementierungs- und Evaluationsprozesse nicht vergessen, ihre angestammten akademischen Freiheiten zu schützen.
Was war für Sie der Höhepunkt Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit?
Ein Erfolg war sicher die 1999 erfolgte Publikationen eines Standardwerkes über lokale Parteien in einem renommierten Verlag der USA, der ersten internationalen Buchpublikation in diesem Bereich. (Local Parties in Political and Organizational Perspective. Westview Verlag, Boulder Co. 1999, herausgegeben zusammen mit Marti Saiz.)
Ein ganz anderer Erfolg war mit der Webpublikation «Toward a Sociology of the Mobile Phone» verbunden, die – sofern dieser Begriff hier überhaupt tauglich ist – heute weltweit zu «klassischen» Texten in diesem noch jungen Feld soziologischer Forschung gehört.
Welche Themen werden Sie in Zukunft weiter verfolgen?
Ich kann wohl der Versuchung nicht widerstehen, in Zukunft aus lauter Gewohnheit weiterhin zu forschen und zu schreiben – und sei es bloss aus resignativer Einsicht, dass es nicht viel anderes gibt, das ich relativ gut kann…
Kurz- und mittelfristig werden vor allem zwei Themen im Vordergrund stehen:
Erstens möchte ich theoretisch die Chancen und Risiken der «Liquid Democracy» erkunden, damit der momentan vor allem von den Piratenparteien vorangetriebene Versuch, direkte und repräsentative Demokratie mit Hilfe digitaler Medien auf neue Weise zu kombinieren.
Zweitens möchte ich an einer Soziologie heteromorpher Systeme weiterarbeiten, die die Gesellschaft als Interaktionsfeld von individuellen und überindividuellen Akteuren begreift. Anders als die «methodischen Individualisten» oder die «Neuroökonomen» bin ich der Meinung, dass wir zum Beispiel Unternehmen als Akteure sui generis begreifen müssen, um die Entwicklung unserer Gesellschaft zu verstehen, weil diese im Vergleich zu Individuen viel höhere Kapazitäten haben, «Gutes» oder «Böses» zu bewirken – und damit zu Recht im Fokus aktueller Sozialbewegungen stehen.