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Russland

Kunst auf der Anklagebank

In Russland tobt seit der politischen Wende 1989 ein Kulturkampf um die Verwendung von kirchlichen und staatlichen Symbolen in Kunst und Literatur. Für die Slavistin Sylvia Sasse Anlass über die die Freiheit der Kunst nachzudenken und darüber, mit welchen Grundrechten diese Freiheit kollidiert.
Sabine Witt

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Eine berstend volle Zuschauertribüne. Die Stimmung ist angeheizt wie bei einem Boxkampf. Anklage und Verteidigung betreten den Ring. Anders als im Wettkampf zählt in diesem Gerichtssaal Fairness wenig: An der Seite instruiert ein Mann eine Frau mit einem Spickzettel. Sie ist als nächste Zeugin aufgerufen und lernt noch schnell ihren Text. Die Richterin bemerkt diesen Betrug scheinbar nicht.

Demonstrantin am Prozess gegen die Ausstellung «Verbotene Kunst», Moskau 2006: «Das Gericht über die Künstler tut der Rechtsprechung Gewalt an.»

Über Kunstfreiheit nachdenken

Diese Szene spielte sich während eines Strafgerichtsprozesses gegen die Ausstellung «Verbotene Kunst 2006» in Moskau ab. Der Prozess behandelte bereits zum zweiten Mal eine Ausstellung des Sacharov-Zentrums für Frieden, Fortschritt und Menschenrechte. Seit dem Ende der Sowjetunion wird die russische Kulturszene von Gerichtsklagen heimgesucht. Sie richten sich gegen Werke der visuellen Kunst und der Literatur. Der erste mit einer Verurteilung endende Prozess gegen die Ausstellung «Vorsicht, Religion!» aus den Jahren 2003 bis 2005 erregte in Russland und auch im Ausland grosses Aufsehen. Schliesslich stand nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit der Kunst auf dem Spiel.

Die Slavistin Sylvia Sasse verfolgt seit langem solche Prozesse in Russland. «Sie gaben den Anstoss, generell über Kunstfreiheit nachzudenken und darüber, mit welchen Grundrechten sie kollidiert», sagt Sylvia Sasse. Die Fragen, ob und wie ästhetische und juristische Diskurse überhaupt vereinbar sind, beschäftigen sie seither und bestimmen auch ein aktuelles Forschungsprojekt.

Literatur in der Kloschüssel

Hinter den Gerichtsklagen stehen regierungs- und kirchennahe Gruppierungen, etwa die Putinjugend «Zusammengehende», aber auch Organisationen, die sich «Volkskirche», «Volksverteidigung» oder «Vereinigung orthodoxer Bannerträger» nennen, eine Mischung aus Eremiten und Hell‘s Angels. Gerade die national-konservative Putinjugend trommelt für ihre spektakulären Aktionen viele junge Leute zusammen. Einmal ertränkten sie die Romane des Gegenwartsautors Vladimir Sorokin vor dem Bolschoj-Theater in einer riesigen Kloschüssel – eine angebliche pornographische Szene zwischen Stalin und Chruschtschow war der Auslöser.

Die Gerichtsklagen und -verfahren zeigen Wirkung. Eingeschüchtert begannen liberale, demokratisch gesinnte Kulturschaffende, sich eine Selbstzensur aufzuerlegen. Freiwillig bildeten sie Kommissionen, um vor Vernissagen Bilder abzuhängen, an denen die selbsternannten Wächter über die öffentliche Moral möglicherweise Anstoss nehmen könnten. Das jedoch wollten der Kurator Andrej Erofeev und der Direktor des Sacharov-Zentrums Jurij Samodurov nicht hinnehmen.

Kaviar und kopulierende Soldaten

In ihrer Ausstellung «Verbotene Kunst 2006» im Jahr 2007 inszenierten sie die zensierten Bilder in einer provokanten Schau. Die Ausstellungsbesucher mussten sich strecken, um ein paar Blicke durch erhöhte Gucklöcher in Stellwänden zu werfen. Dahinter verbarg sich das gefährliche künstlerische Gut: religiöse Symbole, kombiniert mit profanen Bildelementen wie ein Kruzifix mit Leninorden anstelle des Jesuskopfes, ein Ikonenbeschlag mit Kaviar oder ein homosexueller Akt zwischen Soldaten.

Leonid Simonowitsch-Nikschitsch, Anführer der «Vereinigung orthodoxer Bannerträger»: «Man sollte diese Bilder verbrennen.»

Aufgebrachte Ausstellungsgegner aus dem konservativ-nationalistischen Dunstkreis suchten unter den Parlamentariern einen Fürsprecher, der bei der Staatsanwaltschaft eine Klage wegen «Schürens von nationalem und religiösem Hass» einreichte, und zwar nicht explizit gegen das Menschenrechtszentrum, sondern gegen die Organisatoren.

Pornographie in Zürich

Russland und seine Prozesse sind weit weg. Doch auch im Westen hat fast jedes Land «seinen» Kunstprozess oder stösst zumindest gelegentlich an seine Toleranzgrenze. Grosse Wellen warf 1995 in Zürich, dass Stadtpräsident Estermann wegen angeblicher Pornographie dem Helmhaus verbot, Werke der amerikanischen Künstlerin Ellen Cantor zu zeigen. Mit schöner Regelmässigkeit kollidieren bürokratische und künstlerische Auffassungen: 2004 provozierte Thomas Hirschhorn eine folgenreiche Subventionskürzung wegen seiner Darstellung eines Politikers, 2007 untersagte die Polizei dem Filmpodium wegen angeblicher Pornographie, Pasolinis letzten Film in der Zürcher St.-Jakobs-Kirche vorzuführen, machte den Entscheid  aber nach Einsicht in deutsche und österreichische Gerichtsakten rückgängig.

Im Westen machen der Kunst überwiegend Verfahren wegen Verletzung von Persönlichkeits- oder Markenrechten das Leben schwer. Klagen wegen angeblicher Schädigung moralischer Werte – wie im russischen Fall – sind seltener und haben auch schlechtere Erfolgsaussichten.

«Ironiefähigkeit nimmt ab»

Zum Abschluss ihres Forschungsprojektes publiziert die Projektgruppe nun eine zweibändige, nahezu vollständige Dokumentation von Prozessen gegen Kunst und Literatur. Eine umfassende internationale Chronik vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart mit den jeweiligen Urteilen sowie exemplarischen Kommentaren von Experten der Kunst- und Rechtswissenschaft wird erstmals solche Fälle vergleichbar machen und die Konjunkturen von Anklagepunkten aufzeigen.

Das gesellschaftliche Bewusstsein für derlei Phänomene sei relativ gering entwickelt, sagt Sylvia Sasse. Darum hoffen die Forscherinnen, mit ihrer Arbeit eine öffentliche Diskussion anzustossen. Schon heute lasse sich sagen, so Sasse, dass die Toleranz gegenüber religiösen oder ökonomischen Symbolen in der Kunst immer geringer wird: «Die Ironiefähigkeit unserer Gesellschaft hat in den letzten Jahren empfindlich abgenommen.»