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Zürcher Weihnachtsbeleuchtung

«Dekoratives Hintergrundrauschen»

Mehrheitsfähig und langweilig illuminiert «Lucy» seit Ende November weihnächtlich die Zürcher Bahnhofstrasse. Für Philip Ursprung, Professor für Moderne und zeitgenössische Kunst, ein Zeichen dafür, dass sich die Innenstadt zunehmend dem Urbanen verschliesst und Gefahr läuft, als Themenpark ihrer selbst zu enden.
Philip Ursprung

Die Welt ist wieder in Ordnung, Zürich atmet auf. Seit Ende November funkelt «Lucy» über der Bahnhofstrasse. Die Installation simuliert jene Art von Schnee, den wir uns in der Weihnachtszeit wünschen. Er soll leise vom Himmel rieseln, feierlich funkelnd, aber nicht schmutzig sich türmen, Flughäfen und Autobahnen blockieren.

«Lucy» besteht aus Tausenden von Kristallen, die jeweils mit zwei farbigen Leuchtdioden bestückt sind. Die Dioden können so gesteuert werden, dass zahllose farbliche und rhythmische Stimmungen entstehen. Sie bilden einen in unterschiedliche Bilder segmentierten Lichtkörper, der die ganze Bahnhofstrasse überzieht.

«Lucy» funkelt über der Zürcher Bahnhofstrasse: «Gefällige Atmosphäre».

Entworfen haben den Lichtkörper der Architekt Daniele Marquez, der Lichtdesigner Charles Keller und der Künstler Adrian Schiess. «Lucy» ersetzt die umstrittene Lichtinstallation «The World’s Largest Time Piece» der Zürcher Architekten Gramazio & Kohler, die ab 2005 für lediglich fünf Jahre bis 2009 in Betrieb war. Kein Vergleich zum «Lichtbaldachin» von Willi Walter und Charlotte Schmid, der die Zürcher Bahnhofstrasse von 1971 bis 2004 illuminiert hatte.

«Lucy» gibt nichts zu reden

Anders als «The World’s Largest Time Piece» ist «Lucy» mehrheitsfähig. «Geborgenheit» strahle sie aus, hiess es in der Medienmitteilung. Die Reaktionen, die nach der Eröffnung verbreitet wurden, waren durchwegs zustimmend. Die Befragten, vorwiegend ältere Menschen, freuten sich über die weihnächtliche Stimmung, welche die «Kälte» des Vorgängers ablöste.

Die Begeisterung hat sich allerdings rasch gelegt. Während «The World’s Largest Time Piece» jedes Jahr aufs Neue die Menschen dazu brachte, miteinander zu debattieren, gibt «Lucy» nichts zu reden. Die Installation hat zwar keine Gegner, aber auch wenig Fans.

Sie möchte allen gefallen und macht sich gerade deshalb obsolet. Die Schaufenster, die um die Aufmerksamkeit der Konsumenten streiten, stellen sie buchstäblich in den Schatten. Sie wird nur als dekoratives Hintergrundrauschen wahrgenommen. Sie ist zwar durchaus geschickt gestaltet, aber ihr Zweck besteht darin, eine gefällige Atmosphäre zu schaffen, also genau das, was auch die Schaufenster erreichen möchten.

Im Dienste des Konsums

«Lucy» bezieht sich explizit auf den «Baldachin» aus den 1970er Jahren. Dieser sollte die Käufer von den Shopping-Centers, die damals vor den Toren der Stadt entstanden, ins Zentrum locken – mit andern Worten, die Stadtflucht bremsen. Er schirmte die Bahnhofstrasse nach oben optisch ab und verschmolz mit ihr zu einer atmosphärischen Einheit.

Indem er den Aussenraum zum Innenraum machte, stand er zugleich am Beginn eines Trends, dem manche Stadtplaner bis heute folgen, nämlich die Domestizierung des Urbanen. Indem die Rohheit und Widersprüchlichkeit des Urbanen gezähmt wird und alles, was stört, seien es Bettler, Autos, Lärm oder Gestank, in die Randbezirke verdrängt wird, entsteht die «City» – also, ein steriles Substitut des Urbanen, das ganz im Dienste der Konsums steht.

Vorgänger war anders

Die kurzlebige Installation von Gramazio & Kohler bewirkte genau das Gegenteil. Anstatt den Aussenraum zu verbrämen, hatte sie diesen geöffnet und exponiert. Was so manche Kritiker als kalt empfanden, war der frische Wind, der durch diese Öffnung zog. Während «Lucy» ebensogut eine Einkaufsmall zieren könnte, verwies ihr Vorgänger nicht auf ein abgeschottetes Interieur, sondern auf den diskontinuierlichen Raum des Urbanen, auf das Ineinandergreifen von Datenflüssen, Verkehrsverbindungen, Ladenöffnungszeiten, das Klingeln der Handys und das Blinken der Reklame; auf das Nebeneinander von Sprachen, Ethnien, Religionen, Alt und Jung.

Das Projekt von Gramazio & Kohler evozierte weder räumliche Stimmung, noch versetzte es einen in eine Traumwelt. Es artikulierte vielmehr den zeitlichen Druck und hielt einem den Spiegel des Hier und Jetzt vor.

Die meisten Menschen wollten dies nicht hören. Dass die Vereinigung Zürcher Bahnhofstrasse auf die Kritik reagierte, kann man nachvollziehen. Aber ihr Zurückkrebsen ist ein Verlust. Einerseits ist Zürich nach dem abgelehnten «Nagelhaus»-Restaurant des Berliner Künstlers Thomas Demand und des Londoner Architekten Caruso St John am Escher-Wyss-Platz um eine weitere Attraktion ärmer. Andererseits ist «Lucy» ein neuerlicher Schritt, der zur Isolierung der Innenstadt beiträgt. Wenn die Innenstadt nicht mehr als Schauplatz von kulturellen Experimenten, als Bühne des Neuen, sondern nur noch als Ort von Nostalgie inszeniert wird, verliert sie ihre Funktion als Zentrum.

Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Veränderungen in den neuen Stadtvierteln geschehen und die Zukunft der Stadt in der «Agglo» liegt. Wenn die Innenstadt nicht als Themenpark ihrer selbst enden will, dann darf sie sich dem Urbanen nicht verschliessen. «Lucy» bewirkt das Gegenteil. Ihre Traumwelt führt in die Vergangenheit und ihre vermeintliche Geborgenheit trägt dazu bei, dem Zentrum die Luft abschnüren. Schlaf gut, Innenstadt!

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