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Trügerische Sicherheit für die Geisteswissenschaften?

Das zu Ende gehende Jahr der Geisteswissenschaften hat in der Schweiz kaum Wellen geworfen. Ein Symposion an der Universität Zürich vermittelte Einsichten in die Rolle und Wirkungsmöglichkeiten der Geisteswissenschaften.
Theo von Däniken

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Braucht es die Geisteswissenschaften, um den vom Fortschritt der Naturwissenschaften erzeugten Verlust von gewohnter Lebenswelt auszugleichen? Oder wiegt diese für sie komfortable Kompensationstheorie des Philosophen Odo Marquard die Geisteswissenschaften in falscher Sicherheit? Komfortabel deshalb, weil sie die Frage der Nützlichkeit, des künftigen Bedarfs und der finanziellen Absicherung der Geisteswissenschaften klärt. Trotzdem könnte diese Sicherheit trügerisch sein, wie Hans-Ulrich Rüegger, Abteilungsleiter Forschung und Nachwuchsförderung der Universität Zürich, anlässlich eines Symposions zum Jahr der Geisteswissenschaften zu bedenken gab.

Hans-Ulrich Rüegger meldete Zweifel an Odo Marquards Kompensationstheorie der Geisteswissenschaften an.

Sind die Geisteswissenschaften unvermeidlich?

Trotz der Vorteile meldete Rüegger Zweifel an Marquards These an. Zweifel einerseits daran, ob die Geisteswissenschaften als kausale Reaktion auf den Fortschritt der Naturwissenschaften verstanden werden können, oder ob sie nicht, –wie der Philosoph Wilhelm Dilthey formulierte – «die andere Hälfte des globus intellectualis» bilden. Zweifel auch am Kompensationsbedarf, den die Naturwissenschaften laut Marquard erzeugen. Fallen Forschende, die experimentell wissenschaftlich Arbeiten, wirklich aus ihrer gewohnten Lebenswelt heraus, oder bleiben sie nicht trotzdem Menschen, die von ihrer jeweiligen sozialen, religiösen und kulturellen Herkunft geprägt sind?

Theologie statt Religion?

Und wären die Geisteswissenschaften wirklich geeignet, diesen Verlust zu kompensieren? «Ich habe den Verdacht, dass die Kompensationserwartung ... die Geisteswissenschaften an die Stelle dessen setzt, womit sie sich beschäftigen, also anstelle der Literatur die Philologie, anstelle der Religion die Theologie», so Rüegger.

Laut Marquard besteht die kompensatorische Leistung der Geisteswissenschaften darin, dass sie die verloren gegangenen Lebenswelten wieder erfahrbar machen; und zwar indem sie Geschichten erzählen. Diese Kompensationsleistung könnten die Geisteswissenschaften aber nicht erfüllen, so Rüegger. «Was sie zu leisten vermögen, ist nicht ein lebensweltliches Erzählen von Geschichten, sondern ein wissenschaftliches Begründen und Kritisieren von Geschichten.»

Verstehen und kritische Reflektion

Die Geisteswissenschaften, so Rüegger, verhelfen uns also nicht dazu, uns in verlorenen Lebenswelten wieder zu installieren. Aber sie können helfen, vergangene und gegenwärtige Lebenswelten zu verstehen und kritisch zu reflektieren. Genau darin liegt nach Rüegger eine mögliche Wirkung der Geisteswissenschaften, die ihr auch ohne die vermeintliche Sicherheit der Kompensationstheorie bleibt.

Drei Beispiele, wie die Geisteswissenschaften konkret Orientierung schaffen können, zeigten die weiteren Referate am Symposium. Der Zürcher Philosoph Georg Kohler stellte die Frage «Macht Macht dumm?», um auf der scheinbar einfachen Antwort «Ja» eine Kritik des oft als natürlich angesehenen «Recht des Stärkeren» aufzubauen.

Kritisierte mit Kant das vermeintlich natürliche «Recht des Stärkeren» in Nietzsches Herrenmoral: Georg Kohler.

«Herrenmoral» vs. Völkerbund

Kohler stellte Kants Idee eines durch völkerrechtliche Vereinbarungen gesicherten Weltfriedens Nietzsches «Herrenmoral» gegenüber. Auf die aktuelle weltpolitische Bühne gehoben, findet die philosophische Fragestellung ihre Widerspiegelung im Gegensatz zwischen den USA und Europa. Kohler erkennt im Konzept des Präventivkriegs der gegenwärtigen US-Regierung «nietzscheanische» Züge. Demgegenüber steht Europa, das die Regelung von Konflikten im Rahmen völkerrechtlicher Institutionen anstrebt.

In einer vielschichtigen Argumentation legte Kohler dar, dass für Kant aus der Natur des Menschen ein «Recht des Stärkeren» nicht abzuleiten sei. Stattdessen führten kollektive Kriegserfahrungen, die ökonomischen Interessen und die demokratische Organisation von Staaten zu einem Verhalten, das nach Beziehungen verlange, die in Rechtsverträgen verankert seien; in letzter Konsequenz also nach einem Völkerbund.

Dieses auch von der kantischen praktischen Vernunft gewollte Verhalten sei also realisierbar und werde von der «gesellig-ungeselligen Natur» des Menschen unterstützt. So erscheine nicht mehr die Behauptung idealistisch, ein vertraglich in völkerrechtlichen Institutionen verfasster Weltfrieden sei möglich, sondern es erweist sich die so genannt «realistische» Anschauung desjenigen als voreingenommen und unmoralisch, der auf den Hang des Menschen zur Logik des Rechts des Stärkeren hinweist.

Komödien als Impfstoff für das wahre Leben: William D. Furley analysierte die Werke des griechischen Dichters Menander.

Missverstehen als homöopatische Medizin

In seinen philologischen Betrachtungen ging William D. Furley von der Universität Heidelberg dem Missverständnis als Leitmotiv und treibendes Element in den Komödien des griechischen Dichters Menander auf den Grund. Kleine Missverständnisse, etwa ein falsch verstandener Kuss, führen Menanders Figuren in tiefer greifende Verwicklungen und Zerwürfnisse. Die Zuschauer haben dabei einen Informationsvorsprung gegenüber den handelnden Figuren, denn sie werden durch den Prolog über das Missverständnis aufgeklärt.

Menanders Geschichten entwickeln sich folgerichtig – aber eben verhängnisvoll – aus den natürlichen Reaktionen der Figuren auf die missverstandene Situation. Erst mit wachsender Kenntnis deckt sich ihnen der wahre Sachverhalt auf. Menander führt die Figuren und damit die Zuschauer aber nur an den Rand der möglichen Katastrophe; die Stücke enden alle mit einem Happy End. Dennoch bewirken sie so etwas wie einen heilsamen Schock und können so als Impfstoff für die echten Krisen im Leben gelten. «Der Ernst des Lebens wird sozusagen homöopatisch behandelt», so Furley. Die Bühnen-Katastrophen rufen die gleichen Symptome hervor, wie echte Krisen, aber ohne deren lebensgefährlichen Verlauf.

Liegt die Möglichkeit empirischer Wissenschaft im christlichen Denken begründet? Christoph Schwöbel über die Konzeption der Welt als Sprache.

Christliches Denken und empirische Wissenschaften

Nicht über Missverständnisse, aber über die Bedeutung von Sprache und über die Sprache als Medium der Beziehung zu Gott referierte der Tübinger Theologe Christoph Schwöbel. Ausgangspunkt seines überaus dichten Referats war ein Zitat aus Kapitel 14 des ersten Korintherbriefes « ... und nichts ist ohne Sprache».

Positiv gewendet, heisse dies, dass alles Sprache sei, so Schwöbel. Gott, die Welt und die Menschen seien als Sprache konzipiert. Die Welt lasse sich deshalb lesen als Offenbarung göttlicher Wahrheit. Hierin sieht Schwöbel einen grossen Gegensatz des christlichen zum griechischen Denken, indem im christlichen Denken die Erfahrung der Welt Grundlage sein kann für die Erkenntnis ihrer Beschaffenheit. Nicht zuletzt lasse sich vor diesem Hintergrund die Ermöglichung der empirischen Wissenschaften verstehen, meinte Schwöbel.

Dieses Diskussionsangebot an die am Symposium anwesenden Naturwissenschafterinnen und Naturwissenschafter ging aber in der Fülle der weiteren Argumentation unter. Die Diskussion darüber musste daher am abschliessenden Aperitif – genannt Finitif – stattfinden.

 

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